In «Belle de Jour» (1967), dem wohl bekanntesten Film des spanischen Regisseurs Luis Buñuel, beginnt die frigide wirkende Séverine, Hausfrau und verheiratet mit einem erfolgreichen Pariser Chefarzt, tagsüber und heimlich in einem Privatbordell als Prostituierte zu arbeiten. Sie, einst fad, schlapp und traurig, ist nun glücklich. Sie liebt die Hingabe an ihre Freier, selbst wenn diese brutal, ja sadistisch mit ihr umgehen.

Nun scheint es, als habe die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani, die für ihren letzten Roman, «Dann schlaf auch du» den Prix Goncourt gewann, mit ihrem neuen Buch «All das zu verlieren» Ähnliches vorgehabt: Auch Adele lebt in Paris, ist zart und schlank wie Séverine und mit einem leicht biederen Chefarzt verheiratet. Zusammen haben sie ein Kind, leben im 18. Arrondissement, gutbürgerlich und grosszügig.

Adele, Mitte dreissig, arbeitet als Journalistin, mag ihren Job aber nicht, wäre lieber reiche Hausfrau. Wie Séverine geht sie fremd, aber nicht als Prostituierte, sondern umsonst, fast wahllos, mit unzähligen Männern, aber nicht auf schöne, besondere Art, sondern abgründig, dreckig, verzweifelt und brutal. Jedes Mal «während» und «danach» fühlt Adele sich leer, unerfüllt, sie überredet die Männer zu immer brutalerem Vorgehen an ihr. Irgendwann fliegt alles auf, ihr Mann, der erst an Trennung denkt, zwingt sie zu einem Umzug aufs heilsame Land, weg von der Stadt und dreckigem Sex.

Ehefrau-Fantasien

Wie lässt sich der weibliche Drang nach niedrigen, gewalttätigen sexuellen Begegnungen verstehen? Er hat in der Literatur nur eine sachte Tradition: es gibt Hetären, «Lady Chatterley», «Das sexuelle Leben der Catherine M.» und «Fifty Shades of Grey». In all diesen Fällen finden Frauen Erfüllung, ja Befreiung im Ausleben ihrer wie auch immer gearteten Sexualität. So wertet die Kritik auch Adeles Gebaren als Resultat von Fantasien einer gelangweilten Ehefrau. Das Buch, so der Tenor, sei eine moderne «Madame Bovary»-Geschichte: Die Protagonistin des gleichnamigen Romans von Gustave Flaubert lebt mit dem drögen Ehemann Charles und einer kleinen Tochter auf dem Land, das sie anödet. Sie träumt von einem anderen, feudaleren Leben, hat Verhältnisse mit zwei Männern, die, zumindest vorübergehend, verjüngend und belebend wirken. Zugrunde geht Emma an Schulden, nicht am Sexleben.

Slimani entwirft mit Adele keine wollüstige, im eigenen Begehren aufgehende Frau, keine neuartig verstörende und besonders dunkle Form von Feminismus. Im Laufe des Romans wird deutlich: Adele ist unglücklich, ihre Sexsucht laugt sie aus, sie möchte so nicht leben. Viele Sexszenen sind grau und traurig wie abgelegtes Altpapier, beim Lesen überkommt einen Frustration und tiefe Tristesse. Auf dem Land ist Adele, anders als Madame Bovary, zumindest vorübergehend so glücklich, wie es eben geht. Adele, so beschreibt es Slimani, ist eine als Kind zu früh sexuell übergriffigen Momenten ausgesetzte Frau, wuchs mit dem Gefühl der Wertlosigkeit auf, mit feindseliger, promiskuöser Mutter und passivem, aber liebevollem Vater.

In Zeiten von hMeToo ist die von Slimani beschriebene Grauzone interessant; wir können an Sex leiden, weil wir an uns selber leiden, weil uns die Vergangenheit nicht loslässt. Sex, vor allem wenn er zwanghaft häufig und erniedrigend ist, kann die zwanghafte Wiederholung alter Traumata bedeuten, die Frauen – hier die Mutter – ebenso auslösen können wie Männer.

 

Leïla Slimani: All das zu verlieren. Luchterhand. 224 S., Fr. 33.90