Wer nahe bei Gott sein will, muss weit weg. Fort von den Menschen, den Versuchungen, vom eigenen Begehren. Antonius verkroch sich in die libysche Wüste. In völliger Stille und Einsamkeit sass der Bauernsohn, der nie lesen und schreiben lernen sollte, in seinem Felsengrab und wurde zum Urbild des asketischen Einsiedlers. Er fand, wie es Meister Eckhart (1260–1328) ein paar hundert Jahre später formulierte, die «gelazzenheit der zêle», jene innere Ruhe, die das Ziel aller Entsagung ist.
So wie Antonius zog es in der Spätantike Tausende junger Männer und Frauen hinaus in die Einöde. Askese war in. Sie waren Aussteiger, Hippies, Gottsucher. Nur verfolgten sie dabei keinen Egotrip wie ihre späteren Nachfahren. Das gemeinsame Programm, das allerdings jeder für sich selber lebte, hiess Schweigen, Fasten, Enthaltsamkeit. Sie hausten in Höhlen und kleinen Zellen, zerlumpt und stinkend, betend und in totaler Hingebung zu Gott. Mönche ohne Klöster.
Trotzdem steckte die Sünde in ihnen wie in allen Menschen. Einer dieser Wüstenväter, Johannes von Lykopolis (um 300–394), erzählt, wie urplötzlich «eine bildschöne Frau» auf seine Einsiedelei zugewandert sei. Sie jammerte ihm die Ohren voll, weil sie sich verirrt habe. Johannes nahm die Ärmste in seine Behausung auf. Die beiden plauderten, lachten, schäkerten. «Mit ihrem vielen Reden verwirrte sie ihn», berichtet der Historiker und Zeitgenosse Rufin. «Dann streichelte sie gar seine Hand, seinen Bart und seinen Hals.»
Der heilige Johannes verlor seinen Kopf. Die Wollust überkam ihn, bis die junge Frau jäh laut aufschrie, sich seinen Armen entriss und wie ein Schatten entschwand. «In der Luft aber hörte er das schallende Hohngelächter der Dämonen. Sie lachten ihn aus, weil es ihnen gelungen war, ihn mit dem verführerischen Trugbild zum Narren zu halten.»
Wer zu sich selbst kommt, landet nicht selten in den eigenen Abgründen. So erging es nicht nur Johannes und Antonius. Alle frühmonastischen Aussteiger kämpften mit ihren inneren Dämonen. Es war Euagrios Pontikos (um 345–399), der diese verschiedenen Heimsuchungen zum ersten Mal systematisch beschrieb: die Fresslust, die Habsucht (oder Geiz), den Hochmut, die porneia (Unzucht), den Zorn, die Eitelkeit und den Dämon des Überdrusses, der von allen der bedrückendste sei.
Dieser «Mittagsdämon», wie er auch genannt wurde, befalle den Mönch um die vierte Stunde und umkreise seine Seele bis zur achten Stunde. «Zuerst bewirkt er, dass die Sonne anzusehen ist, als ob sie sich nur schwer oder überhaupt nicht bewege, und den Eindruck macht, als habe der Tag fünfzig Stunden.» Ähnlich würde auch ein Depressionskranker seine Antriebslosigkeit schildern. Dieser Dämon führe immerzu «die Mühen der Askese» vor Augen, um die Eremiten dazu zu bringen, ihre Zellen aufzugeben. Pontikos widerstand, indem er die dämonischen Versuchungen mit seinem Verstand sezierte. Den Überdruss, die Faulheit, den Müssiggang hat er deswegen nicht aus der Welt schaffen können.
Es war schliesslich ein Papst, und kein Geringerer als Gregor der Grosse, der im sechsten Jahrhundert Pontikos’ Lasterliste neu anordnete und ins Latein übertrug. Später verfestigte sich der Begriff der «sieben Todsünden». Ihnen widmen nun das Berner Kunstmuseum und das Zentrum Paul Klee eine grosse Ausstellung. «Lust und Laster» heisst die erste gemeinsame Arbeit der beiden Häuser, und sie versammeln in ihrer Schau Werke aus tausend Jahren. Klösterliche Illustrationen, spätmittelalterliche Zyklen, Albrecht Dürers «Der Traum des Doktors (Die Versuchung des Müssiggängers)», Zeichnungen von Paul Klee, zeitgenössische Fotografien.
«Wo, wenn nicht in der Kirche, redet man noch von Sünde im herkömmlichen Sinn?», erinnerte Christoph Schäublin, Präsident der Stiftung Kunstmuseum Bern, anlässlich der Ausstellungseröffnung. Die Worte waren nicht ohne doppelten Sinn gewählt. Zum Auftakt versammelte sich das Premierenpublikum im Berner Münster.
Dieser Sakralbau hat es in sich. Nachdem sich die Stadt der Reformation anschloss, zerschlug der Mob die Inneneinrichtung. Heiligenfiguren, Bilder, Skulpturen – der ganze katholische Zierrat wurde buchstäblich verwüstet – und hier lugt wieder der listige Antonius um die Ecke. Der Mönch suchte in der Wüste, was die evangelische Kirche nun mitten im städtischen Trubel zu bieten versucht: eine Oase der Stille und der Kargheit, um Gott näherzukommen.
Am Anfang der menschlichen Misere steht Adam. Er war es, der unbedingt von den Früchten jenes Baumes kosten wollte, die ihm von Gott verboten waren. Die zischelnde Verführung war stärker. «Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.» Damit überschritten Adam und Eva ihre Grenzen. Sie wollten selbst Gott sein und Gottes nicht mehr bedürfen. Der Preis war die Vertreibung aus dem Paradies und die Angst vor der ewigen Verdammnis als Strafe für ein sündhaftes Leben.
Jeder ist getrieben von seinen Lastern, ob er jetzt an den biblischen Sündenfall glaubt oder nicht. Alle Religionen versuchen, den Menschen zu bändigen. «Wer ist ein Held?», lautet die Frage eines jüdischen Sprichworts. «Der seine Triebe bezwingt.» Bereits die zweite Sure des Korans macht deutlich, was allen blüht, die gegen die Gebote Allahs verstossen. «Wer Böses erwarb und wen seine Sünde umfangen hält – die werden Bewohner des Höllenfeuers sein, darin sie ewig bleiben» (2:81).
So wirklich mit Freude verzichtet keiner auf seine kleineren und grösseren Laster. Es drohte nur Übleres. Heute nicht mehr. Das kirchliche Korrektiv schwächelt. Die Furcht vor dem Fegefeuer ist weg, die Laster sind es nicht. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte leiden mehr Menschen an Übergewicht als an Hunger. Völlerei wird zum globalen Wohlstandsboten. Pornografie steht im Internet für jeden und allzeit zur Verfügung. Die Gier der Banker nach Millionenboni ist sprichwörtlich geworden.
«Eigenschaften wie Habgier, Neid oder Völlerei sind zu Triebfedern des kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden», schreiben die Berner Ausstellungsmacher. Und wie würde die Gegenmedizin lauten? Mehr Kirche? Mehr Gottesfurcht? Den Menschen wieder Höllenangst einjagen? Oder mehr Sozialismus?
Die politischen Grabenkämpfe in der Schweiz bieten zu solchen Fragen kuriose Schauspiele. Ob der Kampf gegen den «Rentenklau» bei den Pensionskassen, das Referendum zur Revision der Arbeitslosenversicherung oder jetzt aktuell die «Steuergerechtigkeitsinitiative» – SP und Gewerkschaften setzen jedes Mal auf den bösen Abzocker und geisseln dessen angebliche Geldgier. Gleichzeitig appelliert die Linke mit ihrem Feindschema an die Neidgefühle der Mehrheit. Eine Todsünde muss herhalten, um eine andere auszutreiben. Da zwinkert der Teufel dem Beelzebub zu.
Der Ausweg ist die Umkehr. Die katholische Heiligensammlung steckt voll von grossen Sündern, die erst spät, dafür umso inniger zu Gott fanden. Paulus war ein zorniger Christenverfolger, ehe er sich der Botschaft Jesu anschloss und deren genialster Verbreiter wurde. Franziskus liess es sich als leichtfüssiges Lebesöhnchen gutgehen. Ein Bekehrungserlebnis machte aus ihm den radikalen Armutsprediger. Ganz ähnlich verläuft die Biografie des heiligen Augustinus.
Allerdings bietet eine Bekehrung auch keine Garantie. Antonius sehnte sich in der Wüste nach der Verschmelzung mit dem Allerhöchsten. Dabei plagten ihn schwere Versuchungen. Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald liessen sich von diesem Kampf zu ihren wichtigsten Kunstwerken inspirieren.
Euagrios Pontikos listete die einzelnen Laster nicht nur auf, er nannte darüber hinaus Mittel, wie sie zu besiegen seien: durch Hungern, körperliche Anstrengung, Einsamkeit, das Singen von Psalmen, aber auch die intensive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift und Gebete.
Papst Gregor I. übernahm in seinen Katalog und der populären Zahl wegen nur sieben Todsünden. Den achten Dämon von Pontikos, die Traurigkeit, liess er fallen. Schade. Vielleicht würden die Kirchen heute etwas fröhlicher daherkommen.