Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung Junge Freiheit.

Da Alice Weidel eine kluge Frau ist, wird sie ihre Worte im Sommerinterview der ARD mit Bedacht gewählt haben. Gemeint sind die beiden Sätze, die erklärten, warum sie auf die Teilnahme an der Veranstaltung zum «Tag des Sieges» in der russischen Botschaft verzichtet hat. Sie sei zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht gehe, «die Niederlage des eigenen Landes … mit einer ehemaligen Besatzungsmacht» zu feiern.

Die Reaktionen fielen wie erwartbar aus: eine «ungeheuerliche Aussage» (Christoph Schwennicke) einer Unbelehrbaren, die Revisionismus betreibe, Hass und Hetze säe und wenn nicht die Machtergreifung des neuen Faschismus vorbereite, dann doch den «geschichtspolitischen Grundkonsens» in Frage stelle, der besage, dass der 8. Mai ein Tag der «Befreiung», nicht der «Niederlage» war. Den etwas klügeren Kommentatoren war immerhin bewusst, dass dieser «geschichtspolitische Grundkonsens» weder Verfassungsrang besitzt noch seit je gegolten hat. Seine zentrale Stellung in der Dogmatik der geltenden Zivilreligion verdankt er vielmehr dem Verlauf der Kulturkämpfe, die während der 1980er Jahre ausgefochten wurden.

Bis zu dem Zeitpunkt hätte an der Formulierung Alice Weidels kaum jemand Anstoss genommen. Denn von «Befreiung» im Hinblick auf den 8. Mai 1945 redeten in der Regel nur Kommunisten und «heimatlose Linke». Die Erlebnisgeneration pflegte dagegen ein gesundes Misstrauen gegen jede Sprachregelung, die sich dem «Propagandamonopol» (Konrad Adenauer) der Sieger verdankte, und die alliierte Direktive JCS 1067 – «Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat» – musste man gar nicht im Wortlaut kennen, um zu wissen, was der Einmarsch und die Besetzung des Reichsgebiets bedeutet hatten: zahllose Gewaltakte, die nie geahndet wurden, Gesetzlosigkeit, Plünderungen, Gefangenschaft der Soldaten, zum Teil unter katastrophalen Bedingungen, Festnahme und Internierung von Zivilisten. Vergewaltigungen gab es in Menge im französischen Besatzungsgebiet – nicht zuletzt durch Kolonialsoldaten –, in erheblicher Zahl in der US-Zone, hunderttausendfach im Osten. Unter sowjetischer Verantwortung kamen ausserdem Massenmord, die Vertreibung von Millionen und Verschleppung hinzu, permanenter Terror und die Schaffung eines neuen Lagersystems auf der Basis des alten.

Bei aller Erleichterung, die die Deutschen über das Ende des NS-Regimes empfanden, wussten sie doch sehr genau, dass hier ein «Zusammenbruch» (Kurt Schumacher) und sicher eine «Katastrophe» (Friedrich Meinecke) stattgefunden hatte, die ursächlich mit der militärischen Niederlage der Wehrmacht zusammenhing. 1985, als aus Anlass des 40. Jahrestags der Kapitulation mit grosser Heftigkeit über die Bedeutung des 8. Mai gestritten wurde, hat Rudolf Augstein – der Gründer und Herausgeber des Spiegels, einst «Sturmgeschütz der Demokratie» – diesen elementaren Sachverhalt noch einmal klargestellt.

In seinem Essay «Auf der schiefen Ebene zur Republik» stehen aus Sicht der Gegenwart so skandalöse Aussagen wie die, es habe auf alliierter Seite «keine Kriegsziele» gegeben, «ausser dem einen, das Bismarck-Deutschland in Stücke zu zerschlagen», oder dass nicht feststehe, dass «die Anti-Hitler-Verbündeten weniger Verbrechen begangen hatten als Hitler», weshalb sie «nach den Massstäben des späteren Nürnberger Prozesses allesamt hätten hängen müssen. Stalin zumindest für Katyn, wenn nicht überhaupt, Truman für die überflüssige Bombardierung von Nagasaki, wenn nicht schon von Hiroshima, und Churchill zumindest als Oberbomber von Dresden». Entscheidend war aber die Folgerung, die Augstein zog: «Lasst sie feiern, weil sie den Krieg gewonnen haben. Wir gucken zu und feiern nicht mit, so wenig wie in der Normandie.»

Der letzte Halbsatz war ein Seitenhieb gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, der im Vorjahr gerne an den Feiern der Sieger zum 40. Jahrestag der Invasion in der Normandie teilgenommen hätte. Allerdings machte er einen Rückzieher, auch weil der Widerstand in seiner Partei – der CDU – gegen eine derartige, als devot empfundene Geste massiver ausgefallen war als vermutet. Das waren aber schon Rückzugsgefechte des sogenannten Stahlhelmflügels, die Kräfteverhältnisse verschoben sich.

Unübersehbar wurde das, als der von der Union gestellte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 von der Vertreibung der Ostdeutschen als einer «erzwungenen Wanderschaft» sprach, das deutsche Leid im Verhältnis zum Leid aller anderen einebnete und zuletzt festhielt: «Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.»

Weizsäckers Ansprache bedeutete eine Zäsur, und zehn Jahre später durfte Kohl den 8. Mai endlich nach seinem Geschmack inszenieren. Zum Staatsakt waren deshalb hochrangige Vertreter aller ehemaligen Siegermächte geladen: der russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin, der US-Vizepräsident Al Gore, der französische Präsident François Mitterrand und der britische Premier John Major. Sie alle betonten, wie wichtig es sei, den Blick nach vorn zu richten. Über die konkreten Umstände des Kriegsendes gingen Tschernomyrdin, Gore und Mitterrand mit Floskeln hinweg. Nicht so Major, für den der 8. Mai 1945 das Ende eines zweiten «Kriegs der dreissig Jahre» markierte.

Mit dieser Formulierung griff Major auf die Formel zurück, die sein Vorgänger Churchill geprägt hatte, als er von einem «dreissigjährigen Krieg von 1914 an» gesprochen und ausgedrückt hatte, dass die Friedensperiode zwischen 1919 und 1939 eigentlich nur eine Kampfpause in dem Konflikt war, der mit dem Ziel ausgetragen wurde, die «deutsche Gefahr» zu beseitigen. Einer seiner Zeitgenossen, der amerikanische Diplomat George F. Kennan, hat die entsprechende Fixierung der Entente wie der Alliierten genau analysiert und als Ausdruck «einer hochgradigen politischen Hysterie» bezeichnet.

Tatsächlich sei es Grossbritannien, Frankreich, Russland und den Vereinigten Staaten immer – während des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs wie der Zwischenkriegszeit – um die Ausschaltung eines Konkurrenten gegangen. Moralische Begründungen habe man nachgeliefert, zwecks Dämonisierung des Feindes, um das eigene Gewissen (falls vorhanden) zu beruhigen und die Bevölkerung zu mobilisieren.

Dem ist wenig hinzuzufügen: Die Alliierten führten Krieg gegen Deutschland aus denselben Motiven, die in der Geschichte immer wieder Anlass zu Kriegen gegeben haben. Sie hatten zu keinem Zeitpunkt die Absicht, die Deutschen zu befreien, und – abgesehen von den Gegnern und Opfern des NS-Regimes – fühlten sich die Deutschen 1945 nicht befreit, bestenfalls «erlöst» (Theodor Heuss) von einer Tyrannis und permanenter Todesgefahr, in jedem Fall aber besiegt.

Dass ihre Nachfahren die relative Uneindeutigkeit des Geschehens leugnen und es im Sinne einer «Befreiung» zu vereindeutigen suchen, hat gelegentlich mit Dummheit, meistens mit Verdrängung und immer mit dem Fehlen jedes Empfindens nationaler Würde zu tun. Insofern muss man dankbar sein, wenn jemand daran erinnert, dass es angesichts der «Niederlage des eigenen Landes» nichts zu feiern gibt.

Karlheinz Weissmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Autor zahlreicher Bücher.

Die 3 Top-Kommentare zu "AfD-Chefin Alice Weidel bezeichnete das Ende der NS-Zeit als «Niederlage des eigenen Landes». Dass die Nachgeborenen es zu einer «Befreiung» umdeuten wollen, hat oft mit Dummheit, Verdrängung und dem Fehlen jedes Empfindens nationaler Würde zu tun"
  • Phantofip

    Dieser Artikel zeigt auf, dass wie sehr Geschichtsvermittlung in Schulen und Lehrbücher der Propaganda dient und nicht dem Verstehen der Wirklichkeit. Es braucht eine Alice Weidel, auch hier. Hoffentlich läutet die AfD eine Zeitenwende ein und beendet die Geisterfahrt der deutschen Politik.

  • ev-marie

    Germany is lost.. auch das haben wir unseren "Befreiern" im speziellen den USA zu verdanken? Zombieland: Migration, drugs, and violence made German cities unbearable https://www.youtube.com/watch?v=gpoJq1c8UKQ

  • e.h.d

    Der 8. Mai 1945 war natürlich der Tag der Niederlage des NS-Regimes, das besiegt worden war. Mit der Zerschlagung der Herrschaft des NS-Regimes wurden natürlich Bürger von dieser Herrschaft befreit, die unter dem Joch des NS-Regimes standen und gelitten hatten. Doch die Dummen sterben nicht aus. Der I. und der II. Weltkrieg kosteten Deutschland, neben Millionen Toten, vielen Verkrüppelten und ... dann noch gut 1/3 des Staatsgebietes von vor 1914. Es ist Zeit, in der Gegenwart anzukommen.