Die Geschichte des letzten Jahrhunderts lässt sich auf zwei Schlagworte eindampfen: «Versailles» und «Appeasement». «Versailles» steht für die masslose Demütigung der Verlierer des Ersten Weltkrieges, ohne die Hitler kaum denkbar gewesen wäre. «Appeasement» steht für das Entgegenkommen gegenüber Hitler, welches in den Zweiten Weltkrieg führte.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Die Implosion der Sowjetunion war eine Demütigung der russischen Grossmacht, welche an die Kapitulation des militärisch notabene unbesiegten Deutschen Reiches 1918 gemahnt. Es ist der Stoff, auf dem Wladimir Putin seine Dolchstoss-Legende vom Verrat des militärisch unbesiegten Sowjetreiches 1991 aufbaut.

Hat das westliche Nato-Bündnis mit der Osterweiterung den Ängsten und Verletzungen der gedemütigten Supermacht Russland zu wenig Rechnung getragen? Hat die Aussicht auf ein Nato-Mitglied Ukraine Wladimir Putin nachgerade zum Angriff auf das Bruderland gezwungen?

Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau (2014 bis 2019) mit langjähriger Osteuropa-Erfahrung, widerlegt diese These in einem bemerkenswerten Gespräch auf Phoenix TV.

Rüdiger von Fritsch kennt Wladimir Putin aus vielfachen Begegnungen. «Der Zerfall der Sowjetunion war ein ungeheurer Gewichtsverlust, ein Verlust an realer Macht, ein tiefes Trauma», schreibt von Fritsch in seinem Buch «Russlands Weg».

 

Von Fritsch beschreibt namentlich die deutschen Bemühungen um eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit dem gedemütigten Riesen. Unter ständiger Rücksichtnahme auf den verletzten Stolz tat man alles, um Russland in das «gemeinsame Haus Europa» einzubinden. Die aus Sicht der betroffenen Länder mehr als verständliche Osterweiterung der Nato sei in enger Zusammenarbeit mit dem Kreml «abgestimmt und abgefedert» gewesen. Sogar Wladimir Putin habe sich in den nuller Jahren noch positiv dazu geäussert. Sein damaliges Bestreben, Russland in eine demokratisch-liberale Marktwirtschaft nach westlichem Muster umzubauen, sei echt gewesen.

Der Rückfall in die Logik der Panzer und Raketen sei erst erfolgt, nachdem sich die Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung zerschlagen hatten. Unfähig, die sowjetische Vergangenheit zu überwinden, blieb Russland wirtschaftlich auf dem Niveau eines Drittweltlandes stecken, während das benachbarte China zur Weltmacht davonzog. Gefangen im Selbstmitleid, klammerte sich der Riese an seine glanzvolle koloniale Vergangenheit.

Die Vorstellung, dass die Ukraine für Russland eine militärische Bedrohung sein könnte, ist lächerlich. Eine reale Katastrophe für die herrschende Clique in Moskau wäre hingegen eine freiheitliche und wirtschaftlich prosperierende Ukraine.

Die Analyse leuchtet ein. Nur beantwortet sie leider die Kernfrage nicht. Was wäre besser gewesen – mehr «Versailles» oder mehr «Appeasement»?