Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Reclam. 701 S., Fr. 18.90 Gottfried Keller: Züricher Novellen. Diogenes. 480 S., Fr. 18.90

Ende 2005 wurde nach zehnjähriger Dauer die Gottfried-Keller-Ausstellung im Gebäude der Credit Suisse (CS) am Paradeplatz geschlossen. Sie erinnerte an den Zürcher Dichter und Staatsschreiber, speziell auch an dessen Beziehungen zu Alfred Escher, dem Gründer der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA). Beide wurden im Jahr 1819 geboren, beide einigte zeitlebens eine liberale Weltanschauung. Doch während Keller als Sohn eines früh verstorbenen Handwerkers in beengten Verhältnissen aufwuchs und in München als gescheiterter Maler an Hunger und Heimweh litt, genoss Escher als Spross einer reichen patrizischen Familie eine gediegene Ausbildung. 1844 und 1845 zog der junge Gottfried Keller mit den Freischaren in Richtung Luzern, um dort die katholisch-konservative Regierung zu stürzen. Escher hatte damals bereits ein Rechtsstudium mit Doktorat und Habilitation absolviert.

«Nicht zu sehr anstrengen»

In einem «Traumbuch» verglich Keller 1847 sich selber mit anderen Persönlichkeiten. Diesen versagte er zwar seine «grösste Achtung» nicht, pochte aber gleichzeitig auf seinen Künstlerstolz. So schrieb er über den späteren CS-Gründer Alfred Escher und dessen prägende Rolle in der liberal-radikalen Regierung des Kantons Zürich: «Der Sohn eines Millionärs, unterzieht er sich den strengsten Arbeiten vom Morgen bis zum Abend, übernimmt schwere, weitläufige Ämter, in einem Alter, wo andere junge Männer von fünf- bis achtundzwanzig Jahren, wenn sie seinen Reichtum besitzen, vor allem das Leben geniessen.» Man sage, Escher sei ehrgeizig, doch er, Keller, würde bei dessen Bildung und Geld kaum «den ganzen Tag auf der Schreibstube sitzen».

1847/48 wirkte Gottfried Keller als Volontär in der Zürcher Staatskanzlei, wo der Erste Staatsschreiber Escher als sein Vorgesetzter amtete. Kaum war dieser zum Regierungsrat aufgestiegen, bewilligte das Gremium dem Dichter ein Reisestipendium zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung.

Aus Heidelberg schrieb Keller im Herbst 1849 an Escher: «Möchte es mir im Laufe dieses Jahres gelingen, einigermassen zu beweisen, dass das Vaterland nicht umsonst sein Vertrauen in mein Talent und in meinen Fleiss gesetzt hat.» Statt der geplanten 800 kostete die Weiterbildung schliesslich fast 3000 Franken, an denen sich Escher auch aus persönlichen Mitteln beteiligte.

Aus Berlin berichtete der Autor des Romans «Der grüne Heinrich» 1854 an seinen Förderer, er habe es so weit gebracht, «anständig aus mir selbst» zu leben, und hoffe auf gute Buchhändlerverträge: «Ich werde so die nächsten fünf oder sechs Jahre unabhängig als Schriftsteller existieren können, ohne in Vielschreiberei zu geraten.» Die ihm in Zürich angebotene Professur am neuen Polytechnikum lehnte Keller ab.

Überlastet als Zürcher Regierungspräsident, Mitglied des National- und Kantonsrates sowie Gründer und Chef der Nordostbahn, geriet Alfred Escher im Herbst 1855 in eine ernste gesundheitliche Krise, was Gottfried Keller in einem Brief an die Mutter lebhaft bedauerte: «Es ist am Ende doch dauerhafter, wenn man sich nicht zu sehr anstrengt.» Doch Escher erholte sich vollständig und gründete ein halbes Jahr später die Schweizerische Kreditanstalt als erste grosse Aktienbank für Industrie und Handel.

Der heimgekehrte Keller vermochte sich im von Alfred Escher geprägten Zürich mit seiner regen Bautätigkeit und seinem Eisenbahnfieber nur schwer einzuleben. Tonangebend waren nicht mehr biedere Handwerker und Kleinbürger wie in seinem «Fähnlein der sieben Aufrechten», sondern das grossbürgerliche «System Escher». Keller beklagte sich bei einer Berliner Freundin, dass «die Schweizer mehr als je, und so gut wie überall, nach Geld und Gewinn jagten». Er wurde zu einem scharfen Kritiker von geballter Macht, angehäuftem Vermögen und Ämterkumulation der politisch-wirtschaftlichen liberalen Elite. Im Neuenburgerhandel geriet Gottfried Keller 1856 in einen eigentlichen Kriegsrausch gegen das viel mächtigere Preussen. Selbstbewusst wandte er sich an die Bundesversammlung: Wenn diese vergebens um Frieden getagt habe, «so taget zur selben Stunde zum Krieg» als «ernste und heilige Schule, wo die Güter des Lebens nach ihrem wahren und letzten Wert erkannt und geschätzt werden».

Es gehörte zum System des «Bundesbarons», auf Angriffe mit Grosszügigkeit zu reagieren.

Auch im Savoyer Handel von 1859/60 gegen Napoleon III. bekämpfte Keller die neutrale Friedenspolitik der Zürcher Regierung unter Alfred Escher, der er Verrat sowie Geld- und Spekulationsgier vorwarf. Geradezu visionär entwarf der Dichter die Karikatur einer künftigen Banken- und Frauenschweiz, in der «jede Bundesrätin» in den «Handelshäfen» der Welt eine «vergoldete Yacht hat, in welcher sie der Königin von England Besuche abstattet».

In einem wahren Furor politischer Publizistik wandte sich Keller jetzt gegen den Wirtschaftsliberalismus und sympathisierte mit der demokratischen Opposition. Anfang 1861 legte er sich im Zürcher Intelligenzblatt direkt mit Alfred Escher an und unterzog dessen Auftritt vor dem Grossen Rat und überhaupt seine «Friedenspartei» einer scharfen Kritik. Da damals die NZZ für Neutralität und Frieden statt für Parteinahme und Kriegshetze eintrat, geriet auch dieses Blatt in Kellers Schussfeld: Eschers Rede sei nicht auf dem Niveau eines Grossratspräsidenten, sondern auf jenem eines NZZ-Journalisten gestanden. Er missbrauche den schweizerischen Neutralitätsgedanken für seine wirtschaftlichen Ziele und mute der Schweiz im Völkerringen ein «passives Übersichergehenlassen» zu: «Die aufrichtige Neutralität, von welcher Herr Escher spricht, ist kein so ganz einfaches Ding.» In seinen «Randglossen» unterstützte Keller Eschers Widersacher, den Berner Kriegstreiber Jakob Stämpfli, und prangerte die Textilfabrikanten («Baumwollene») und deren ausbeutende Fabrik- und Kinderarbeit an.

Kellers Zwingli erhält Eschers Züge

Es gehörte indessen zum vielgescholtenen System des «Bundesbarons» Alfred Escher, auf solche Angriffe mit souveräner Grosszügigkeit zu reagieren. Pragmatiker durch und durch, band er intelligente, wortgewaltige Gegner ein, statt ihnen einen zermürbenden Dauerkampf zu liefern. 1861 wählte die Zürcher Regierung Gottfried Keller zum Staatsschreiber und damit zu ihrem bestbezahlten Beamten. Dies enthob den Dichter mit einem Schlag aller Geldprobleme. Entgegen vielen Befürchtungen erwies sich der Gewählte im Amt als äusserst gewissenhaft.

Als die Demokratische Bewegung Alfred Escher ab 1866 immer blindwütiger angriff, stellte sich Keller loyal an dessen Seite. Mittlerweile auch zum Kantonsrat gewählt, nahm Keller den führenden Politiker und Wirtschaftsführer öffentlich gegen ehrenrührige Anwürfe des Winterthurer Landboten in Schutz und nannte sie ein «seltsames Durcheinander von Einbildungen über stattgefundene Wahlintrigen». Der Staatsschreiber teilte vorerst mit Escher die Vorbehalte der Altliberalen gegen die direkte Demokratie, sei sie doch mit «zu viel Geschrei, Zeitverlust, Reibung und Konfusion» verbunden. Später räumte Keller aber ein, dass das Stimmvolk seiner neuen Entscheidungsgewalt auch in Sachabstimmungen durchaus gewachsen sei.

In der Novelle «Das verlorene Lachen» (erschienen im Zyklus «Die Leute von Seldwyla») hat Gottfried Keller die destruktive Wirkung der Demokratischen Bewegung eindrucksvoll beschrieben. Und in der Erzählung «Ursula» (erschienen in den «Züricher Novellen») verlieh er Huldrych Zwingli die einnehmenden Züge von Alfred Escher, nannte er doch den Reformator einen «Steuermann» von «grosser Wachsamkeit» und «Kenntnis der Dinge und Menschen», der «unermüdlich gegen List und Gewalt der gegnerischen Welt» ankämpft: «Er war die Seele des geheimen und des offenen Rates, Lehrer und Prediger, Staatsmann und Diplomat.»

Der Junggeselle Keller wurde Mitglied einer Samstagsgesellschaft, der auch der Witwer Escher angehörte, in dessen Villa «Belvoir» er öfter zu Gast war. Dort begegnete Gottfried Keller auch Eschers Tochter Lydia, die ihn mit dem Maler Karl Stauffer bekannt machte. Man war «fidel zusammen», und noch kurz vor Eschers Tod schrieb Keller an Lydia: «Ich werde mich freuen, den Herrn Vater nach bestandener grausamer Prüfung wiederzusehen, und auch seinem Hausengel gegenüber mit priesterlich-diplomatischer Würde aufzutreten trachten.» Der Sechzigjährige richtete an Lydia Escher sogar die unernste Frage, wie es denn wohl wäre, wenn sie sich in ihn verlieben würde. 1882 unterschrieb sie einen Brief an Keller mit «Frau Dr. Emil Welti», wobei sie das Wort «Silence» diagonal über die Unterschrift setzte. Damit orientierte sie den Dichter vertraulich über ihre heimliche Verlobung mit dem gleichnamigen Sohn des mächtigen Bundesrats, mit dem sich ihr Vater zerstritten hatte.

Als Alfred Escher – der mittlerweile verfemte, vereinsamte Schöpfer von Gotthardbahn, Kreditanstalt, ETH und Rückversicherungsgesellschaft – im Alter von 63 Jahren verstarb, sass Gottfried Keller unter der grossen Trauergemeinde. Ein Männerchor intonierte Kellers Gedicht «O mein Heimatland». In der NZZ brachte Keller in einem Artikel über den Solothurner Bildhauer Richard Kissling 1883 beiläufig die Idee eines Denkmals für Alfred Escher auf, kurz darauf wirkte er in einem Komitee, das zu diesem Zweck Geld sammelte. Im Leitartikel «Escher-Denkmal» berichtete der Dichter im Sommer 1884 über den Fortgang der Planungsarbeiten. Wie niemand sonst habe Escher das «Glück der Republik» durch «aufopfernde Arbeit» gefördert. Kellers unüberhörbaren Zwischentönen ist zu entnehmen, wie sehr für ihn die Persönlichkeit Eschers die mittlerweile amtierenden Durchschnittspolitiker in den Schatten stellen würde.

Überragende Figur der Gründerzeit

Seinen allerletzten Zeitungsartikel überhaupt schrieb Gottfried Keller am 22. Juni 1889 in der NZZ über «Alfred Eschers Denkmalweihe». Er würdigte seinen Zürcher Mitbürger in einer Art Abgesang als überragende Figur der Gründerzeit. Keller nannte den nunmehr in Erz gegossenen Staatsmann auf dem Bahnhofplatz einen «Mann des Friedens»; in seiner «Friedfertigkeit» habe der Kern von Eschers Wesen gelegen. Ob hier eine leise Selbstkritik am eigenen zeitweise innen- und aussenpolitischen Säbelrasseln anklang? In Ergänzung zur Inschrift auf dem Denkmalsockel von Alfred Escher schlug Keller diese Worte vor: «Dem Manne, der mit Geistestreue und eigenster Arbeit sich selbst Pflichten auf Pflichten schuf und, sie erfüllend, wirkend und führend seine Tage verbrachte, die Nächte opferte und das Augenlicht!»

Aus Lydia Welti-Eschers tragischem Millionenerbe indessen ging die nach Gottfried Keller benannte Stiftung zum Erhalt von bildender Kunst für die Schweizerische Eidgenossenschaft hervor. Durch Misswirtschaft und Managementfehler ist die Gottfried-Keller-Stiftung finanziell längst zugrunde gerichtet worden – wie jetzt auch die Credit Suisse als geniale Gründung Alfred Eschers.