Das grösste Wahlbeben seit langem kommt aus der Mitte Deutschlands: Die Wähler in Sachsen und Thüringen – weniger als sechs Millionen – zerlegen das traditionelle Parteiensystem der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.

In beiden Ländern kann die Union nur noch mit linken Parteien (SPD, BSW, Linkspartei) regieren, will sie nicht gegen ihre eigenen, heiligen «Brandmauer»-Schwüre verstossen. Mit anderen Worten: Die Mitteldeutschen wählen rechts wie nie und bekommen am Ende eine von Linken abhängige Unionsregierung.

Alice Weidels AfD und Sahra Wagenknechts BSW sind die grossen Zugewinner dieser Wahl. Zwei Frauen verkörpern den Konter gegen die verachtete Politik der Berliner Ampel-Koalition. Ihre Parteien kommen gemeinsam in beiden Ländern in die Nähe der absoluten Mehrheit.

AfD und BSW stehen für das Ende der traditionellen Westbindung der Bundesrepublik und das Bündnis mit den USA. Eine Kooperation von Union und BSW in Sachsen dürfte zur inneren Zerreissprobe für die Union werden, für die Westbindung, Nato und transatlantisches Bündnis zur geopolitischen DNA gehört.

Es gehört zu den wohl tollkühnsten Volten der deutschen Nachkriegspolitik, wie es Sahra Wagenknecht geschafft hat, innerhalb eines guten halben Jahres ihre Bewegung komplett vom Malus ihrer eigenen kommunistischen Vergangenheit zu lösen und als «neue», gewissermassen unbelastete Kraft zu etablieren. Obwohl mit einem klassisch linken Sozialprogramm unterwegs, gilt sie linken Kommentatoren sogar als «populistische» Kraft.

Die Union bleibt trotz passabler Ergebnisse seltsam desorientiert zurück und muss jetzt mit ihren eigenen Unvereinbarkeitsbeschlüssen mit der Linken und der AfD klarkommen, die der so erfahrenen Machtpartei jetzt die taktische Beweglichkeit rauben.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) dürfte nach seinem Parforceritt im Wahlkampf jetzt auch in der Bundes-CDU eine stärkere Rolle spielen und sich jegliches Naserümpfen der West-Landesfürsten etwa über seinen eigenwilligen Ukraine-Kurs verbitten.

In der Kanzlerpartei SPD dürften jetzt mit voller Wucht die Debatten über den Kurs der Sozialdemokratie und den künftigen Kanzlerkandidaten aufbrechen. In der Union wird spannend zu beobachten sein, ob und wie CDU-Chef Friedrich Merz oder Kretschmer-Freund und CSU-Chef Markus Söder ein Mandat für die Kanzlerkandidatur der Union für sich ableiten.

Klar ist vor allem eines: AfD und BSW werden direkt oder indirekt die deutsche Politik künftig mitbestimmen oder weiter Politikverdrossene einsammeln und weiterwachsen. Das harte Erwachen beginnt für die deutsche Politik am Montagmorgen, wenn die tönenden Fassadenreden verklungen sind und die politische Ebene beginnt.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.

Die 3 Top-Kommentare zu "Deutschlands hartes Erwachen: Alice Weidels AfD und Sahra Wagenknechts BSW sind die grossen Zugewinner der Wahlen in Sachsen und Thüringen. Wie weiter?"
  • Socrates9Zico10

    Alle meine Wahlziele sind in Erfüllung gegangen: Die AfD hat den ersten Sieg bei einer Landtagswahl errungen und das mit fast 10% Vorsprung in Thüringen, die Grünen sind aus beiden Landesregierungen geflogen und in Thüringen sogar aus dem Landtag, die FDP gibt es im Osten nicht mehr und in Thüringen reicht es nicht mal für CDU/BSW/SPD! Trotzdem wird es Koalitionen der Verlierer gegen den Wählerwillen und gegen die AfD geben!

  • UKSchweizer

    Die Ergebnisse de Wahlen in Thüringen und Sachsen sind ein Zeichen. Für grosse Hoffnungen auf eine tatsächliche Wende besteht kaum ein Grund. Bundesweit schon gar nicht.

  • burg

    Gehen Brandmauerpolitik und politisches Aussitzen alternativlos in die nächste Phase? Oder bewegt sich endlich etwas in Deutschland?