Christian Hiller von Gaertringen: Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens. Finanzbuch. 251 S., Fr. 34.90

Christian Hiller von Gaertringen ist Ökonom und Journalist, hat die Beratungsgesellschaft Africa Partners gegründet und arbeitet an einer Pariser Denkfabrik mit. Der Untertitel seines Buches deutet die Hauptthesen an. Der Aufstieg vieler Schwellenländer beendet die globale Dominanz des Westens, der durch Verlagerung vieler Stufen der Wertschöpfung in Schwellenländer seine Deindustrialisierung betrieben hat. Deshalb sollte der Westen die Vorstellung aufgeben, dass andere Länder westliche Werte übernehmen und sich bevormunden lassen. Diese Thesen sind wirtschafts- und technologiehistorisch eingebettet.

Mischung von Arroganz und Heuchelei

Neue Technologien und Wirtschaftsweisen bedeuten auch Aufstieg und Niedergang von Volkswirtschaften. Die erste industrielle Revolution mit Dampfmaschinen und Eisenbahnen begann in Grossbritannien. Bei der zweiten Revolution mit Elektrizität und Chemie hebt der Autor die deutsche Rolle hervor. Bei der dritten Revolution, den Computern, führten die USA. Jetzt gibt es die vierte Revolution mit Digitalisierung, Big Data, E-Mobilität, Biotechnologie und Telemedizin, in der die USA von China herausgefordert werden. Es deutet sich ein Machtverlust nicht nur Europas, sondern auch der USA an. Hauptgewinner ist bisher China.

Künftig erwartet Gaertringen zunehmenden Einfluss Indiens, das in der Informationstechnologie eine gute Ausgangsbasis hat, auf lange Sicht auch Afrikas. Treiber der Machtverschiebung ist die demografische Entwicklung: das Ergrauen des Westens, auch Chinas. Alternden Gesellschaften traut Gaertringen wenig Innovation zu. Die Akzeptanz des Zahlungsverkehrs von Handy zu Handy ist nicht nur in China, sondern auch in Kenia ausgeprägter als im Westen. Im Westen hat Behaglichkeit Vorrang. Wenn man Unternehmen nach Wert oder Wachstum ordnet, findet man auf den besten Plätzen mehr chinesische als europäische Unternehmen.

Der Autor warnt davor, das Wachstum von Schwellenländern und damit den Machtverlust des Westens kleinzureden. Bei internationalen Organisationen versuchte der Westen zu lange, Positionen zu halten, die seinem Gewicht von gestern, aber nicht der Realität von heute entsprechen. Das gilt beim Weltwährungsfonds, der immer von Europäern geführt wird, bei der Weltbank, immer unter amerikanischer Führung, oder im Sicherheitsrat der Uno, wo zwei westeuropäische Staaten ständige Mitglieder sind, aber nicht Indien mit einer etwa zwanzig Mal so grossen Bevölkerung und auch mehr Wirtschaftskraft. Aber Chinas Einfluss in vielen internationalen Organisationen nimmt zu. Und die Welthandelsorganisation wird von einer Afrikanerin geleitet.

Die Arroganz des Westens besteht darin, dass wir annehmen, dass alle Menschen Freiheit, Menschenrechte, Gleichberechtigung, Demokratie und Marktwirtschaft verlangen. Wir halten westliche Werte für globale Aspirationen. Der Autor hebt hervor, dass Wirtschaftskraft und Einfluss des Westens für den Export westlicher Werte nicht mehr ausreichen. Das Auftreten des Westens in den Schwellenländern wird zunehmend als Mischung von Arroganz und Heuchelei empfunden.

Das Buch ist für ein breites Publikum gut lesbar. Der moralfreie Ansatz mit Betonung der technologischen, ökonomischen und machtpolitischen Gegebenheiten ist vernünftig. Man sollte aber auch andere Perspektiven zur Kenntnis nehmen. Eine Verteidigung des bei Gaertringen vernachlässigten Wertes der wirtschaftlichen Freiheit kann darin bestehen, dass man deren Wert zur Erreichung von Wohlstand betont. Die von Gaertringen unterbewerteten Vorteile der Rückständigkeit, die das schnelle Wachstum vieler Schwellenländer erlauben, wären ohne die wirtschaftliche Freiheit und den damit errungenen Wohlstand des Westens gar nicht denkbar.