Hip-Hop einen Aufhänger zu verpassen, ein Ereignis, das die Entwicklung von «einer neuen Kunstform zur Popkultur definierenden Supermacht» (New York Times, NYT) ausgelöst haben soll, wirkt ein wenig erzwungen und zufällig. Doch am 11. August 1973 mischte der amerikanisch-jamaikanische Musikproduzent Kool DJ Herc in einem Mietshaus an der Sedgwick Avenue 1520 in New York zwei Platten desselben Albums zu einem nahtlosen breakbeat, einer Schlagzeugabfolge. Das war’s – und wird seither als Stunde null des Hip-Hops bezeichnet. Doch genauso gut hätte man den Augenblick, als erstmals jemand mittels eines Mikrofons über Musik ab Schallplatte rappte, also Reime sprach, zum Anfang der Zeitrechnung erklären können – was etwa DJ Hollywood schon vor mehr als fünfzig Jahren tat.

Wie berichtet man über ein Gebiet, das zu vielfältig und widersprüchlich ist für eine fadengerade Beschreibung? Indem man sich dessen bedient, was man bei Hip-Hop-Künstlern gelernt hat: Man pickt das raus, was einem gefällt oder zumindest auffällt. Ohne Anspruch auf Vollständig- oder Endgültigkeit der Einordnung.

Gangsta-Rap

Am Anfang war die South Bronx, der New Yorker Stadtteil. In den Strassen und Klubs des Bezirks, wo die Armut der grossen Stadt anteilsmässig am grössten war (ist) und zahlreiche schwarze Amerikaner und karibische Einwanderer leben, sowie in Queens, einem weiteren der insgesamt fünf Boroughs, begannen die Laufbahnen von Grandmaster Flash, Run-D.M.C., von LL Cool J und Salt ’n’ Pepa oder Chuck D sowie Flavor Flav (aus dem nahen Long Island), die Public Enemy gründeten. Man kann die Hip-Hop- und Rap-Genesis natürlich auch poetischer wiedergeben. Black Thought, der Ober-Rapper der Gruppe The Roots, erzählt sie so: «Vor fünfzig Jahren wurde eine Strassenprinzessin geboren, sie sollte zur Ikone heranwachsen.»

Weiter zurück in der Schöpfungsgeschichte geht der Kritiker Wesley Morris. Hip-Hop sei schon immer da gewesen, schreibt er in der NYT. Denn die Energie, die diese Kunst antreibe, sei die der schwarzen Amerikaner. Energie, die ihnen entrissen werde, seit die ersten Afrikaner vor Jahrhunderten in dieses Land verschleppt worden waren. Danach zieht er eine Linie von afrikanischen Trommeln über Spiritual, Ragtime, Jazz, Gospel und Blues weiter zu R ’n’ B (Rhythm and Blues), Folk, Rock ’n’ Roll, Funk, Disco, New Wave bis Housemusic. «Oder einfach Soulmusik. Und die Energie lässt nie nach, sondern geht von einem Gastgeber zum nächsten über.»

Tatsächlich ist Hip-Hop Musik von mehrheitlich schwarzem Erbe. Was nicht heisst, dass man schwarz sein muss, um sie zu hören. Und auch nicht zwingend, um sie zu produzieren oder zu interpretieren – der bestverkaufende Rapper aller Zeiten ist ein Weisser, Marshall Mathers III, berühmt als Eminem. (Und der zweitbeste, Aubrey Drake Graham, bekannt als Drake, ein Kanadier, ein schwarzer immerhin.)

Als Nächstes drängten südkalifornische Rapper auf die Landkarte. Eazy-E und Ice Cube gründeten 1986 mit dem Rapper/DJ Dr. Dre (und weiteren Musikern) die Band N.W.A (Niggaz Wit Attitudes). Von ihrem zwei Jahre später veröffentlichten Album «Straight Outta Compton», eine Ehrerbietung an den Vorort von Los Angeles, wo sie lebten, wurden über drei Millionen Stück verkauft; die meisten allerdings erst ab 2015, nach Erscheinen des Films gleichen Namens.

Der bestverkaufende Rapper aller Zeiten ist ein Weisser, Marshall Mathers III, berühmt als Eminem.Doch wichtiger als die Platzierung in den Hitparaden war das Konzept des Albums mit Songs wie «Fuck Tha Police» oder «Dopeman» – es war massgeblich beteiligt an der Verbreitung des Gangsta-Raps sowie der Wahrnehmung des Westcoast-Hip-Hops als Gegengewicht zum Werk der Ostküsten-Rapgrössen. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entwickelte sich Atlanta im Südstaat Georgia zu einer wichtigen Hip-Hop-Stadt, wo neben Gangsta-Rap auch andere Subgenres entstanden (etwa die Stilrichtung Trap).

Wer Gangsta-Rap sagt, muss über Christopher Wallace, genannt The Notorious B.I.G. oder Biggie, sprechen. Sowie über Tupac Shakur oder 2Pac. Biggie, geboren 1972 in Brooklyn, New York, war einer der erfolgreichsten Rapper überhaupt. Trotz des Umstands, dass (oder obwohl) seine Musik dem aggressiven, düsteren Hardcore-Genre zugerechnet wird und dass (oder obwohl) der Künstler als junger Mann Drogenhändler war. 2Pac, geboren ein Jahr vor Biggie, vergleichbar erfolgreich und New Yorker ebenfalls, aufgewachsen in East Harlem, aber sozialisiert in Baltimore sowie der Gegend von San Francisco, war zwar auch arm. Er lernte aber als Sohn einer alleinerziehenden Bürgerrechtlerin früh, dass Bildung ein besseres und sichereres Leben ermöglicht als Kriminalität. Mit Verbrechern in Verbindung kam er dennoch, sobald er in Oakland als Roadie, Tänzer und, später, Rapper zu arbeiten begann.

Eine Zeitlang waren die beiden Freunde. Bis es zu beef kam, wie man Streit in diesen Kreisen nennt. 1994 wurde 2Pac angeschossen – und behauptete fortan, Biggie habe den Attentäter angestiftet. 1996 schliesslich starb 2Pac in den Strassen von Las Vegas, erschossen nach dem Besuch eines Mike-Tyson-Boxkampfs in seinem an einer Ampel wartenden Auto, er war 25. Nur wenige Monate später endete Biggies Leben unter ähnlichen Umständen – in Los Angeles, en route zu einer Party in den Hollywood Hills.

Opioide statt Dom P

Die beiden Gewalttaten des East-Coast-West-Coast-Streits – beide Fälle gelten als ungelöst, verurteilt wurde bis heute niemand – stellen Tiefpunkte dar. Und führten zu der höchsten Zahl strenger Urteile über die Hip-Hop-Kultur in der breiten Öffentlichkeit. Sie als Ausreisser darzustellen, wäre aber falsch, leider. Beef, Streit, und Blutvergiessen in der Folge gehören zum Hip-Hop wie Texte, in denen Frauen geringgeschätzt und Luxuskonsum sowie Angriffe auf Polizisten und/oder andere Rapper verherrlicht werden.

Die Ausgabe des NYT Magazine, in der es ausschliesslich um das Fünfzig-Jahr-Jubiläum geht, bringt einen Beitrag mit der Überschrift «Wir gedenken der Rapper, die wir verloren haben». Und erzählt von über 63 Künstlern, «die zu früh gingen» (von DJ Scott La Rock, 1987 mit 25 erschossen, bis zu Trugoy the Dove, im Januar 2023 mit 54 an Herzversagen gestorben). Tote weisse Männer kommen ebenfalls vor (Adam «MCA» Yauch von den Beastie Boys oder Malcolm «Mac Miller» McCormick) sowie schwarze Frauen (darunter Lisa «Left Eye» Lopes).

Die Schlussfolgerung, als Rapper oder Rapperin lebe man gefährlich, trifft zu. Noch zutreffender ist der Umkehrschluss: Wer gefährlich lebt und einen frühen, vielleicht gewaltsamen Tod in Kauf nimmt, rappt, denn er/sie sammelte schon mal Erfahrungen, an denen man sich dann künstlerisch abarbeiten kann. Das kreative Ergebnis, eine Mischung aus «Hab Spass, solange du noch kannst» und Nihilismus, stellt ziemlich genau den Inhalt dar, den viele Heranwachsende suchen (und Eltern vor ihnen verstecken möchten). Was Teil der Erklärung ist, weshalb die Ausstrahlung und Zugkraft von Hip-Hop auch nach fünfzig Jahren ungebrochen ist.

Doch Hip-Hop ist mehr als raps, Reime, und beats, Takt. Damit aus der Musikstilrichtung eine die Popkultur definierende Supermacht werden konnte, brauchte es Begleitumstände. Solche prägen das Lebensgefühl der Hörerinnen und Hörer ähnlich wie die Musik an sich – Kleidung, Accessoires, Sprache, Haltung oder, kurz und fremdwörtlich: «Kodexe».

Alle Rapper und DJs aufzuzählen, die eigene Modelinien haben oder Kooperationen mit Marken eingehen, dafür fehlt hier der Platz. Herausragend ist, oder war, Kanye West, der aus dem Raster gefallen ist wegen Beleidigung von Schwarzen, Juden und wer ihm sonst noch in den Sinn kam; sowie Pharrell Williams, seit diesem Jahr Kreativchef der Männerlinie von Louis Vuitton. Über Schmuck, genannt bling, gibt es unter anderem den kiloschweren 390-seitigen Bildband «Ice Cold. A Hip Hop Jewelry History». Der Rapper-Slang wird von Akademikern in Seminaren untersucht; die attitude, Haltung, ist ebenfalls ein eigenes Feld, ein weites.

Wie die Männer im Allgemeinen befinden sich auch die Top-Rapper in einer Krise.Aber all’s not well auf dem Planeten Hip-Hop. Wie die Männer im Allgemeinen befinden sich auch die (amerikanischen) Top-Rapper in einer Krise: «Verwirrt und überfordert von all den neuaufgetauchten Idealen, die sie verkörpern sollen», kommentiert eine NYT-Schreiberin die ungemütliche Lage. Und nennt zwecks Beweisführung unter anderem die Häufung von Psychopharmaka-Marken-Erwähnungen in Songtexten. Ging’s früher um «money, cash, hoes» (Geld, Bargeld, Nutten; Jay-Z mit DMX) und Dom P(érignon, ein Champagner), Louis Vuitton, Maybachs (teuerste Mercedes-Automodelle), reimen angesagte Rapper heute über Percs (Percocet), Oxys (Oxycodon) und Xans (Xanax), Opioide respektive Benzodiazepine, süchtig machende, schmerzstillende beziehungsweise angstlösende Medikamente. Zusammengefasst: depressiv und paranoid. Unter dem Malaise der Männer leidet auch die Kunstform.

Die möglicherweise gute Nachricht: Wenn sich einige Alpha-Männchen weniger aufplustern, entsteht Platz für diversity, Vielfalt. Statt nur schwarze Männer besetzen seit einigen Jahren auch braune (Latinos wie etwa Bad Bunny) oder regenbogenfarbene (Homo- oder Bisexuelle wie Frank Ocean, Lil Nas X) Rapper Spitzenplätze bei den Verkaufszahlen. Und natürlich Frauen – «sie haben den ganzen Spass», urteilt die NYT. Überschrift des Essays: «Die Zukunft des Hip-Hops ist weiblich».

Drei Mal in die Füsse geschossen

Was möglicherweise nicht ganz stimmt, aber bestimmt die gegenwärtig vorherrschende Meinung in einem grossen Teil der Medien sowie einem kleineren Teil der Gesellschaft abbildet. Bestverkaufende Rapperinnen und weibliche R-’n’-B-Stars sind allerdings keine neusten Nachrichten (siehe Missy Elliott, Lauryn Hill, Mary J. Blige, Rihanna etc.). Doch im Augenblick ist die Beachtung von Cardi B, Nicki Minaj, Doja Cat oder Megan Thee Stallion wirklich hoch, wenn auch teilweise höher als die Verkaufszahlen (Ausnahme: Megan Thee Stallion).

Jüngst wurde Tory Lanez, ein kanadischer Rapper und ehemaliger One-Night-Stand – oder mehrmaliger Liebhaber – der «Hengstin» zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weil er ihr wegen beef, eines Streits über die Karriere und die Beziehung, in die Füsse geschossen hatte, gleich drei Mal – die Namen sowie Geschlechter ändern sich, die Geschichte wiederholt sich.

Oder mit anderen Worten: Hip-Hop ist fünfzig und somit irgendwie alt geworden, aber noch lange nicht reif.