Indiens grösstes Unternehmen, Reliance Industries, fusioniert mit Disney. Bis Ende 2024/Anfang 2025 soll ein Medienimperium entstehen, das mit einem Budget von 8,5 Milliarden Dollar nicht weniger als 98 Unterhaltungs- und Sportkanäle sowie zwei Streaming-Plattformen umfasst. Das Projekt, das aus der Zusammenarbeit der Familie Ambani und Disney resultiert, hat das Potenzial, bis zu 50 Prozent des indischen Streaming-Marktes zu erobern. Die Familie Ambani, die oft als Indiens «Denver-Clan» bezeichnet wird, ist die «reichste Familie Asiens». Das ausführliche Weltwoche-Familienporträt lesen Sie nachstehend. Der Text erschien bereits in der Ausgabe vom 21. August 2022.

 

Wenige Länder sind Gegenstand so vieler Mythen und falscher Vorstellungen wie das Indien der Nachkriegszeit. Dafür sind vor allem die Gründerväter der indischen Nation verantwortlich. Im Interesse der Nationwerdung haben Mahatma Gandhi und Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, das Image von einem Indien kultiviert, das schon immer ein Land gewesen sei. Das Gegenteil ist richtig.

Über die Jahrhunderte war Indien eine Region mit unzähligen autonomen Staaten. Manchmal waren Teile des Landes vereinigt, etwa im Mogulreich, unter den Sikhs und im Marathenreich, aber ein Einheitsstaat war Indien nie. Vor der Unabhängigkeit bestand Indien aus Territorien, die unmittelbar von der Kolonialmacht verwaltet wurden, und 565 unabhängigen Fürstentümern, mit deren Herrschern die Engländer Schutzverträge geschlossen hatten. Erst von Nehru und seiner Kongresspartei wurde Indien zentralisiert und zu einem Nationalstaat gemacht, nicht von den Briten, die das Land im Allgemeinen mit lockerer Hand regiert hatten.

Schneeraum in Mumbai

Indiens Wirtschaft wurde nach dem Krieg auch nicht durch das britische Kolonialerbe gebremst wie von den Linken oft behauptet. Die Nachkriegszeit war in der Tat beschwerlich, aber die ökonomische Entwicklung wurde nicht vom einstigen Imperialismus behindert, sondern von sozialistischen Ideen, die an der London School of Economics im Schwange waren. Die Kongresspartei unter Nehru und später seiner Tochter Indira Gandhi verwandelte Indien in einen pseudokommunistischen, nach Autarkie strebenden Staat, der enge Beziehungen zur Sowjetunion pflegte.

Nach deren Zusammenbruch blieb Indien nichts anderes übrig, als sich unter Premierminister Narasimha Rao, einem weithin unterschätzten Reformpolitiker, dem internationalen Kapitalismus zu öffnen. Seit 1991 kann Indien eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung vorweisen, auch wenn es vom Exportweltmeister China noch meilenweit entfernt ist. Anders als dort waren hier vor allem freiheitliche Werte und Kreativität die treibenden Kräfte.

Indien ist schon jetzt die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt. Und auf Basis aktueller Trends bei Bevölkerungszahl (1,4 Milliarden Einwohner) und Wachstum (5 bis 7 Prozent jährlich) wird Indien die USA im Jahr 2050 und China am Ende des Jahrhunderts überholt haben. Doch während Indien für China langfristig ein wirtschaftlicher und geopolitischer Rivale ist, wird der schlafende Gigant vom Westen nach wie vor unterschätzt. Die Geschichte der Familie Ambani steht beispielhaft für das Erwachen des modernen Indien.

In Mumbai (früher Bombay) ist es entweder sehr heiss und schwül oder unerträglich heiss und schwül. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich in den vier Jahren, die ich dort lebte, nur ein einziges Mal einen Pullover getragen. Ist das der Grund, weshalb Mukesh Ambani, der reichste Mann Indiens, in seinem luxuriösen, neuen Haus namens Antilia einen Schneeraum hat einbauen lassen? Auf Knopfdruck rieselt dort künstlicher Schnee von der Decke.

100 Bedienstete pro Familienmitglied

Antilia ist kein gewöhnliches Wohnhaus, sondern ein extravagantes Hochhaus, bei dessen Anblick jeder 007-Schurke erblassen würde. Das Gebäude in der Altamount Road, in Mumbais teuerster Wohngegend, ist 173 Meter hoch, hat 27 Stockwerke und eine Fläche von 40 000 Quadratmetern. Ambani hat das Haus für sich und seine fünf Familienmitglieder errichten lassen. Bei Baukosten von schätzungsweise zwei Milliarden Dollar gilt Antilia als das teuerste Privathaus der Welt und ist mittlerweile eine weithin sichtbare Touristenattraktion.

Die Familie bewohnt die obersten sechs Stockwerke, die man mit neun Aufzügen von der imposanten Eingangshalle aus erreicht. Das Gebäude verfügt über Stellplätze für 168 Autos, drei (illegale) Hubschrauberlandeplätze, einen Ballsaal, ein Kino mit fünfzig Plätzen, ein Yogastudio, ein Fitnesszentrum, ein Tanzstudio, hängende Gärten und Unterkunft für 600 Bedienstete – 100 für jedes Familienmitglied. Es gibt auch einen hinduistischen Tempel. Die Ambanis, Verehrer von Srinath, einer Inkarnation von Krishna, machen häufig Pilgerreisen zu seinem Tempel – per Firmenjet nach Udaipur und mit dem Wagen weiter nördlich nach Nathdwara.

Ambani ist um 25 Milliarden Dollar reicher als Zuckerberg und dreissigmal reicher als Trump.

In den letzten Jahren haben die Ambanis wertvolle Immobilien im Ausland erworben. Hamleys, der berühmte Spielzeugwarenladen in der Londoner Regent Street, stand ebenso auf der Shoppingliste wie «Stoke Park», das prächtige Hotel und Klubhaus der Golfanlage, die im Bond-Film «Goldfinger» zu sehen ist. Auch das New Yorker «Mandarin Oriental»-Hotel wurde gekauft. Auf die Übernahme von Boots, der führenden britischen Apotheken- und Drogeriekette, verzichteten die Ambanis jedoch nach langwierigen Verhandlungen.

Aktentaschen voller Bargeld

Angesichts der Extravaganz seines Mumbaier Wohnhauses ist der Umstand, dass Ambani selbst kaum in Erscheinung tritt, ein wenig mysteriös. Mukesh Ambani, der einmal als reichster Mann der Welt galt, ist laut Forbes noch immer der zehntreichste Mann der Welt und die reichste Person in Asien. Mit einem geschätzten Vermögen von 90,7 Milliarden Dollar ist er viermal reicher als Jack Ma, der chinesische Unternehmer und Gründer von Alibaba. Nur zum Vergleich: Ambani ist um 25 Milliarden Dollar reicher als Mark Zuckerberg, mehr als viermal so reich wie Rupert Murdoch und dreissigmal reicher als Donald Trump.

Mukesh Ambani wurde am 18. April 1957 in Aden geboren, Hafenstadt und damals britische Kronkolonie östlich der Meerenge zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden. Ein Jahr später kehrte sein Vater Dhirubhai Ambani, Kaufmann aus Gudscharat und Angehöriger der aus Kaufleuten und Händlern bestehenden Vaishya-Kaste, zurück nach Indien, wo er mit seinem Cousin ein Textilunternehmen aufbaute. In den nächsten zehn Jahren konnte er bescheidene Erfolge verzeichnen, doch dann trennte er sich von seinem Partner und gründete 1966 das Unternehmen, aus dem später Reliance Industries wurde. Vor allem etablierte er die Firma Vimal, die sich auf Anzüge und Saris aus Polyester spezialisierte und Marktführer in Indien wurde.

Die Familie lebte in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung im Stadtteil Bhuleshwar an der Südspitze von Bombay. Dhirubhai dirigierte sein Unternehmen von einem 33 Quadratmeter grossen Büro aus, das nur über einen Tisch mit Telefon verfügte. Von hier aus baute er Vimal zu einer landesweit bekannten Marke aus. Die Geschäfte gingen bald so gut, dass er für die Familie ein vierzehnstöckiges Wohnhaus in Colaba kaufen konnte, jenem Viertel von Bombay, in dem sich auch der Gateway of India und das berühmte «Taj»-Hotel befinden.

Es dürfte ausser Zweifel stehen, dass Dhirubhais Erfolg sich auch den politischen Kontakten verdankte, die er geschickt knüpfte und pflegte. Laut Hamish McDonald, Autor von «Ambani & Sons» (2010), liess er «Politikern in ganz Delhi» Aktentaschen voller Bargeld zukommen. Angesichts der Funktionsweise des politischen Systems, das darüber entschied, wann und wo Polyesterfabriken errichtet werden konnten, lag das vielleicht nahe.

Mukesh studierte am Institute of Chemical Technology und ging dann nach Stanford, um dort seinen MBA zu machen. Doch schon bald beorderte sein Vater ihn zurück, um bei der Führung des Geschäftsimperiums mitzuhelfen, das inzwischen in die Petrochemiebranche eingestiegen war. Die diversen Firmen, eingetragen unter dem Namen Reliance Petroleum, wurden 2002 zu Reliance Industries zusammengelegt. Heute sind Petrochemie, Öl und Gas das Kerngeschäft von Reliance Industries.

Dhirubhai starb 2002, aber schon 1986 hatte er nach einem Schlaganfall die Macht schrittweise an Mukesh und seinen jüngeren Sohn Anil übergeben. Dhirubhai war jemand, der polarisierte. Für die einen war er Vorbild, für andere ein «Intrigant und Lügner», für wieder andere ein «Visionär» und ein «Napoleon».

Sein Tod führte zur ersten grossen Krise in der Geschichte von Reliance – keine geschäftliche, sondern eine Familienkrise. Dhirubhai hatte in Bezug auf sein Erbe keine Verfügungen hinterlassen. Mukesh wurde Direktor und Geschäftsführer, Anil Vizedirektor, aber es gab ständig Streit. Ihre unüberbrückbaren Differenzen kamen im November 2004 an die Öffentlichkeit. Erst ihre Mutter Kokilaben Ambani konnte eine Lösung unterbreiten. Im Juni 2005 wurde der Besitz aufgeteilt. Petrochemie, Öl- und Gasexploration, Raffinerien und Textilfabriken gingen an Mukesh, während Anil die Bereiche Telekommunikation, Energie, Unterhaltung und Finanzdienstleistungen übernahm.

Doch der Kampf der beiden Brüder um die Vorherrschaft ging weiter. In den folgenden vier Jahren wurde um die Telekommunikations- und Ölfirmen prozessiert. Am Ende stand Mukesh als Gewinner da. Er diversifizierte erfolgreich in die Bereiche Lebensmittel, Bekleidung und Haushaltswaren. Seit 2006 dominiert Reliance Retail den Einzelhandel. Anil war schon immer das schwarze Schaf der Familie: Er hatte eine traditionell arrangierte Ehe ausgeschlagen und stattdessen einen Bollywood-Star geheiratet, seine Unternehmen waren mit zu viel Fremdkapital belastet, Gläubiger hielt er hin, darunter Ericsson Telecom und drei chinesische Banken. 2019 hatte seine Reliance ADA Group 90 Prozent ihres Marktwerts eingebüsst. Angesichts von Privatinsolvenz und drohender Gefängnisstrafe musste Mukesh seinem Bruder mit 77 Millionen Dollar aus der Patsche helfen.

Grosser Förderer von Premier Modi

Ein Tiefschlag für Anil war die Gründung von Reliance Jio 2016, mit dem Mukesh das Mobilfunkunternehmen Reliance Communications seines Bruders in den Ruin trieb. Jio bot schnellere, günstigere Mobilfunk- und Datendienste. Es schadete nicht, dass Mukesh den Premierminister als Kunden gewinnen konnte. Binnen zwölf Monaten hatte Mukesh den Marktanteil seines Bruders verdoppelt, und fünf Jahre später kontrolliert Jio 36 Prozent des Markts. 2019 musste Anils Telekommunikationsunternehmen Konkurs anmelden.

Alles weist darauf hin, dass Mukesh Ambani politische Kontakte ebenso geschickt zu nutzen versteht wie sein Vater. Mukesh ist bekannt als grosser Förderer von Premierminister Narendra Modi, der, wie die Ambanis, aus Gudscharat kommt. Mit seinem politischen Gespür und seiner brutalen Geschäftspraxis hat Mukesh dem Firmenkonglomerat Reliance Industries zu beispielloser wirtschaftlicher Dominanz verholfen. Ein Anwalt soll gesagt haben: «Ambani ist mächtiger als der Staat. Er kann über Erfolg oder Misserfolg von Premierministern entscheiden.» Was gut ist für Reliance, scheint – einstweilen zumindest – auch gut für Indien zu sein.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork