Inflation und Währungszerfall: Die Lira-Schwäche ist eine Folge der extrem hohen Inflation.

In den letzten zehn Jahren betrug die Teuerung 495 Prozent. Der Kurseinbruch zum Franken seit Erdogans letzter Wahl im Juni 2018 beläuft sich auf 80 Prozent und verhindert, die chronischen, grossen Handelsdefizite (2022: 109 Milliarden US-Dollar) einzudämmen.

Die Währungsreserven des Landes sind geschrumpft, und die Notenbank wurde verpolitisiert. Erdogan hat die Notenbank angewiesen, die Zinsen zu senken, um die Inflation zu drücken. Diese Voodoo-Geldpolitik hat die Flucht aus der Lira beschleunigt. Aber Erdogan ist nicht bereit, diese Politik nach den Wahlen aufzugeben.

Dennoch, die Langfristzinsen sind seit März 2022 bis heute von 24 auf noch 9,7 Prozent gesunken. Die Inflation hat sich seit dem letztjährigen Hoch von fast 86 Prozent auf 44 im April 2023 fast halbiert.

Nato und EU: Die Türkei ist Nato-Mitglied, pflegt aber auch enge Beziehungen zu Russland und zur Ukraine und ist Kriegspartei im syrischen Bürgerkrieg. Die Türkei hatte den Beitritt Schwedens in die Nato bislang blockiert, weil Schweden zu wenig gegen die Bekämpfung von dort ansässigen Terroristen aus der Türkei unternehme. EU-Politiker wie der Vorsitzende des EU-Parlaments, Manfred Weber (EVP/CSU), fordern schon seit einiger Zeit einen endgültigen Abbruch der EU-Beitritts-Verhandlungen.

Finanzielle Auslandabhängigkeit: In den letzten Monaten vor den Wahlen hat die türkische Notenbank zweistellige Milliardenbeträge von den Golfstaaten erhalten, insbesondere von Saudi-Arabien und Katar. Aber diese Gelder waren keine normalen ausländischen Direktinvestitionen, sondern sie dienten vor allem dazu, Erdogans Wahlsieg abzusichern.

Aber damit sind wohl auch nicht offengelegte politische und wirtschaftliche Zugeständnisse verbunden. Der Staat ist mit 28 Prozent Ausgaben im Vergleich zum BIP (Europa rund 50 Prozent) nicht überdimensioniert, aber die Staatsrechnung dennoch seit Jahren defizitär.

Die Staatsschulden in Prozent des nominellen BIP erscheinen mit 31 Prozent im globalen Vergleich massvoll, aber dieser günstige Wert ist nicht das Verdienst der Regierung, sondern eine Folge der hohen Inflation, die die früher eingegangenen Schulden entwertete.

In Lira ausgedrückt, haben sie sich in den letzten fünf Jahren mehr als vervierfacht. Das Land und seine Privatunternehmen verfügen jedoch über einen hohen Anteil an Auslandschulden in Fremdwährungen, und diese schmerzen wegen der ständigen Abwertung.

Energie-Abhängigkeit von Russland: Auch Russland spielt als Supporter von Erdogan eine wichtige Rolle. Putin sichert die Energieversorgung der Türkei. Im Gegenzug hat die Türkei gemäss diversen Quellen mitgeholfen, die Sanktionen des Westens gegen Russland zu unterlaufen. Andererseits hat Erdogan der Ukraine Drohnen geliefert und Verhandlungen über Getreideexporte ermöglicht. Es ist in Russlands ureigenstem Interesse, eine Opposition zu verhindern, die sich konsequenter auf die Seite der Nato schlagen würde.

Wiederaufbau Erdbebengebiete und Wohnungsbau: Eine der grössten Herausforderungen wird der Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Regionen in der Südosttürkei sein. Noch im September 2022 versprach Präsident Erdogan, 500.000 Wohnungen zu erstellen, sollte er erneut gewählt werden. Aber die Bauindustrie, eine der Schlüssel-Industrien des Landes, ist auf Importe von Baumaterialien angewiesen, die sich infolge des Lira-Einbruchs massiv verteuert haben.

Rückführung von Asylanten: Die schweren Erdbeben führten nicht nur zu 50.000 Toten, sondern auch zu rund zwei Millionen Obdachlosen. Damit hat sich die Aversion gegen die im Land ebenfalls Unterschlupf suchenden Asylanten vorab aus Syrien erhöht, und die Problematik wurde zu einem Wahlthema. Erdogans Justizdepartement hat angekündigt, innerhalb eines Jahres mindestens eine Million Flüchtlinge zurückzuführen. Damit wächst die Gefahr, dass diese noch vor ihrer Ausschaffung lieber eine Flucht nach Europa wagen.

Im Oktober 2023 feiert die Republik Türkei den 100. Jahrestag ihrer Gründung. Erdogan hat deshalb weitere massive Investitionen in die Rüstungsindustrie und die Infrastruktur versprochen.

Er wird nun liefern müssen, denn bereits in zehn Monaten, im März 2024, stehen die nächsten Wahlen, die Lokalwahlen, an. 2019 verlor Erdogans Partei die Kontrolle über mehrere grosse Städte, allen voran Ankara und Istanbul.

Er wird wohl den Ehrgeiz haben, die Mehrheit in diesen Städten zurückzuerobern.