Vor der russischen Invasion im Februar 2022 wusste man im Westen nicht sehr viel über die Ukraine, von Kasachstan ganz zu schweigen. Wir alle haben lange Zeit eine prorussische Perspektive eingenommen und die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt.

Doch inzwischen wissen wir, dass Putin, gestützt auf ein absurdes Geschichtsbild, die Souveränität der Ukraine in Abrede stellt, und wir müssen uns fragen, ob auch andere postsowjetische Staaten davon betroffen sein könnten. Ich denke vor allem an Kasachstan, den östlichen Nachbarn, der das Reich Moskaus von China trennt, so wie die Ukraine und Belarus Russland von der EU trennen.

 

Brutale Kontrolle

Die Ukraine ist etwas grösser als Frankreich und fast doppelt so gross wie Deutschland. Aber Kasachstan ist ungleich grösser: Die West-Ost-Ausdehnung entspricht der Entfernung zwischen Portugal und Polen, aber nur neunzehn Millionen Menschen leben in diesem weiten Land.

Kasachstan hat, wie die Ukraine, eine turbulente und tragische Geschichte. Dieser Teil Zentralasiens wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Zarenreich erobert. Verschiedene, meist turksprachige asiatische Nomaden zogen mit ihren Jurten, Schafen und Pferden über die Steppe. Die Kasachen waren die grösste Volksgruppe, neben Kirgisen, Usbeken, Turkmenen, Nogaiern, Tataren und vielen anderen.

Nach der Revolution von 1917 erlangte Zentralasien, wie alle anderen nichtrussischen Provinzen des Zarenreichs, die Freiheit. Im Dezember 1917 wurde in Orenburg die kasachische Autonomie (Alasch Orda) proklamiert, die Alasch-Partei war von der provisorischen russischen Regierung anerkannt worden. Faktisch war das Gebiet unabhängig, da die Bolschewiki anderweitig beschäftigt waren. Wie die unabhängige Ukraine bestand das unabhängige Kasachstan unter Älichan Bökeichan von 1917 bis 1920.

Über Nacht war eine neue Lage entstanden. Die ehemaligen Befehlsempfänger bekamen Angst.

Der junge Staat, von den Bolschewiki alsbald annektiert, wurde in Kirgisische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umbenannt, mit der Hauptstadt Qysylorda im Süden des Landes.

Wie in der Ukraine verbanden die Bolschewiki brutale politische Kontrolle mit einem gewissen Mass an kulturellen Freiheiten. Das Kasachische wurde standardisiert und in den Schulen unterrichtet. Eine neue Generation wuchs mit der Muttersprache Kasachisch heran.

1929 brach die stalinistische Zwangskollektivierung über das Land herein. Für Nomaden, die keine Erfahrung mit Landwirtschaft hatten, war dieses Projekt völlig untauglich. Drei Jahre wütete die Hungersnot (der «Goloschtschokin-Genozid») in Kasachstan, mit Millionen von Toten. Am Ende waren zwar weniger Opfer zu beklagen als im ukrainischen Holodomor, aber doch so viele, dass die Kasachen eine Minderheit im eigenen Land waren.

In den 1930ern diente Kasachstan als Auffanglager für Millionen angeblich unzuverlässiger Ukrainer, Polen, Wolgadeutscher und Koreaner, die auf Stalins Befehl zwangsumgesiedelt wurden. Die Verbannten stabilisierten die Demografie in Zentralasien und hinterliessen bleibende Spuren in der vielfältigen Physiognomie der Region. 1936 erhielt Kasachstan den Status einer eigenständigen sowjetischen Unionsrepublik. Die Hauptstadt Almaty, an der neuen Turksib-Eisenbahn gelegen, expandierte. Aber die stalinistischen Säuberungen und der darauffolgende Grosse Terror führten erneut zu Abermillionen Toten. Die junge kasachische Kommunistische Partei wurde auf einen Schlag dezimiert, die erste Generation gebildeter Kasachen ausgelöscht.

Kasachstan hat, wie die Ukraine, eine turbulente und tragische Geschichte.

Während des Zweiten Weltkriegs lag Kasachstan weiter hinter der Front. Hunderte Fabrikanlagen und Hunderttausende Arbeiter aus dem Westen der Sowjetunion wurden nach Kasachstan verfrachtet, die Industrialisierung erlebte einen Aufschwung, und die europäische Bevölkerung wuchs.

Die rasante Wirtschaftsentwicklung nach dem Krieg ging einher mit einer intensiven Russifizierung. Auf Geheiss Stalins sollte künftig nur noch Russisch gesprochen werden, nicht nur im alltäglichen Umgang der verschiedenen Ethnien, sondern auch in Wissenschaft, Mathematik, Wirtschaft und Bildungswesen. Sozialer Aufstieg war nur mit Russischkenntnissen möglich. Dreissig, vierzig Jahre später waren alle gebildeten Kasachen zweisprachig. Niemand fragte nach dem Preis. In dieser Zeit diente Kasachstan auch als Atomversuchsgelände.

 

Aufschwung und Zusammenbruch

Dennoch führten die Fünfjahrespläne zu einem rasanten Aufschwung in Bergbau und Industrie. Zentralasien war reich an Bodenschätzen. Ein Steppengebiet von der Grösse Englands wurde agrarwirtschaftlich nutzbar gemacht. Komsomolzen strömten ins Land. Doch Dürren, Inkompetenz und eine inadäquate Infrastruktur führten nach ein, zwei Rekordernten zum Zusammenbruch des ganzen Projekts.

Die Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion brachte alle möglichen Probleme. Befehle, Pläne und politische Weisungen kamen nicht mehr aus dem «Zentrum». Nursultan Nasarbajew, liess sich zum Präsidenten Kasachstans wählen und setzte die erste demokratische Verfassung ausser Kraft. Gleichzeitig eröffneten sich neue Horizonte. Nach dem Massenexodus vieler Russen, vor allem von Angehörigen der herrschenden Nomenklatura, hatten nunmehr Kasachen das Sagen in ihrem Land. Das ideologische Vakuum wurde mit einer Spielart des kasachischen Nationalismus gefüllt. Es gab wieder Religionsfreiheit – für die mehrheitlich sunnitischen Muslime, die einem liberalen Islam folgen, und für orthodoxe Christen, die einen von Moskau unabhängigen Patriarchen bekamen. Astana (heute Nur-Sultan) wurde die neue Hauptstadt.

Mit dem unmittelbaren Nachbarn China, der rasch zur zweiten Supermacht der Welt aufstieg, wurden enge Beziehungen aufgenommen. Kasachstan unterstützte das Projekt «Neue Seidenstrasse». Aussenpolitisch trat man selbstbewusst als internationaler Vermittler auf, namentlich im Syrienkonflikt. 2019 machte der alternde Nasarbajew, der inzwischen den Titel «Elbasy» (Vater der Nation) trug, den Weg frei für den Nachfolger Qassym-Schomart Tokajew, einen in Moskau ausgebildeten Sinologen, blieb aber Vorsitzender des Sicherheitsrats.

Drei Jahre später, im Januar 2022, brachen Unruhen aus. In Schangaösen protestierten Demonstranten gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise. Die Proteste breiteten sich aus, es kam zu Gewalt. Das Rathaus von Almaty wurde in Brand gesetzt. Polizisten wurden getötet, die Menge skandierte «Alter Mann, verschwinde». Eine verknöcherte Elite, die den Reichtum des Landes geplündert hatte, hatte die Lage nicht mehr im Griff. Unter Verweis auf «terroristische Banden» bat Tokajew die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Entsendung von Truppen. Nasarbajew musste zurücktreten. Dreitausend russische Fallschirmjäger stellten die Ordnung wieder her, 20.000 Demonstranten und Oppositionelle wurden verhaftet. Tokajew agierte, wie es von allen guten russischen Satrapen erwartet wurde.

Im Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Über Nacht war eine neue Lage entstanden. Putin hatte gegen die goldene Regel aller Mafia-Organisationen verstossen, die besagt, dass der Boss für den Schutz der Fusssoldaten zu sorgen hat. Alle ehemaligen Befehlsempfänger des Kreml bekamen es mit der Angst zu tun. Kasachen erinnerten sich an den Goloschtschokin, an Stalin und die verlorenen Generationen. Tokajew verzichtete darauf, die Invasion gutzuheissen, er erkannte die Pseudorepubliken Donezk und Luhansk ebenso wenig an wie die illegale Annexion der Krim und anderer ukrainischer Gebiete und erklärte seine strikte Neutralität. Bei einem Treffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand wurde vorsichtig Kritik an Putin geübt. Der erkannte, dass Tokajew nicht isoliert war. Es gab Hinweise, dass die kasachische Diaspora in der Ukraine den Widerstand gegen Russland unterstützte.

 

Pekings «nahes Ausland»

Wie der Kreml zu Veränderungen in Zentralasien steht, ist unbekannt. Folgendes könnte als gesichert gelten. Erstens: Da Nationalisten sich nur selten mit anderen Nationalisten gut verstehen, dürfte Putin keine allzu gute Meinung von der kasachischen Führung haben. Wahrscheinlich hält er sie für undankbare Provinzfürsten, die vom postsowjetischen Chaos in Russland profitierten. Zweitens: Kasachstan dürfte für Putin zum sogenannten «Nahen Ausland» gehören, also Teil jener Einflusssphäre sein, in der russische Interessen nicht angetastet werden dürfen. (Kasachstan hat umgekehrt keinen Anspruch auf ein eigenes «Nahes Ausland»). Und der Kremlherr mit seiner neoimperialistischen Sicht auf Nationen und Kulturen wird Kasachen, Kirgisen, Turkmenen oder Usbeken als Völker zweiter Klasse betrachten. Und drittens: Als Produkte der Petersburger Mafia und des KGB dürften Putin und sein Kreis rivalisierende Machthaber ähnlichen Ursprungs naturgemäss mit grossem Misstrauen betrachten. Sie scheren sich nicht um Völkerrecht, demokratische Prinzipien oder Anstand. Ihnen geht es nur um die alte leninsche Frage «Wer [kontrolliert] wen».

Kasachstan dürfte ganz oben auf Putins Liste derjenigen Kandidaten gestanden haben, die mit Vergeltung rechnen mussten. Baikonur kann für ihn nicht weniger wertvoll sein als Sewastopol, und vorsorglich wird bereits gestreut, dass ethnische Russen in Kasachstan diskriminiert werden. Aber die Zeit für solche Träume ist vorbei. Putin hat in der Ukraine seine Muskeln spielen lassen und damit alle Ex-Sowjetrepubliken in helle Aufregung versetzt. Sollte Moskau gegen sie vorgehen, würde man feststellen, dass die Kasachen mächtige Freunde haben und China nunmehr Zentralasien als eigenes «Nahes Ausland» betrachten könnte.

 

Norman Davies ist emeritierter Professor am University College London, Honorary Fellow am St. Antony’s College in Oxford und Autor mehrerer Bücher über polnische und europäische Geschichte.

Dieser Artikel ist zuerst im Spectator erschienen.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork