Matt Bianco live: Sunny Bar, Kulm Hotel.
Festival da Jazz St. Moritz. 20. und 21. Juli

Die Musik konnte nicht dunkel, der Weltschmerz nicht gross genug sein – Mitte der 1980er Jahre waren meine Freunde und ich es leid geworden, Popper und also gut drauf, adrett angezogen sowie zielstrebig unterwegs zu sein. Weshalb wir nicht länger ABC oder Spandau Ballet hörten, von Frankie Goes to Hollywood oder Wham gar nicht zu reden. Stattdessen waren The Cure angesagt, The Smiths und, unter Kennern, Joy Division. Rauer Rock hatte pfiffigen Pop abgelöst als Soundtrack auf dem Weg ins junge Erwachsenenleben.

Doch plötzlich klang es ganz anders aus dem frisch liberalisierten Radio respektive von dem seit kurzem erhältlichen Tonträger in Form einer dünnen Silberscheibe mit Namen Compact Disc: «Get up / Get out of your lazy bed / Before I count to three – step to it, baby.» Und der Sound zum beschwingten Text war genauso lüpfig. Was war das denn für Musik? «New Jazz», «Neoswing», «Latin-Pop» lauteten einige der Begriffe, die Londoner Journalisten eilig erfanden. Die Band hiess Matt Bianco.

Schwieriger zu beantworten war, was man damit anfangen sollte. Die Gruppe – oder war’s ein Solokünstler? – nicht zu mögen, war nicht einfach, technisch war der Sound gut, geschliffen, sauber. Abgesehen davon, wer mag den Sonnenschein nicht? Und selbst wenn man ein Fan von Gothic-Rock war, hatte man eine Freundin, die zu Matt Biancos New Jazz, Neoswing, Latin-Pop oder was auch immer tanzen wollte – und dabei viel sexyer aussah als zu den düsteren Klängen, die man eigentlich cool fand.

Auf den ersten Streich folgte ein zweiter sogleich, «Half a Minute», und bloss ein paar Monate später, im Jahr 1985, der dritte Hit, «More Than I Can Bear». Dieser Hattrick der guten Laune beförderte das rasch nachgereichte Album «Whose Side Are You On?» auch in die Schweizer Albumcharts. Und sorgte dafür, dass es sich 24 Wochen lang dort halten konnte (höchste Platzierung: Rang 12, in Deutschland Platz 3, in Grossbritannien Rang 35).

Fast ein One-Hit-Wonder

38 Jahre später trete ich ins Basler «Atlantis», finde den Mann, der der Manager sein muss – und übersehe den neben ihm stehenden Musiker, mit dem ich verabredet bin. Ist der Künstler kleiner, als ich ihn mir vorgestellt habe? (Ja.) Kahler? (Nun, er hatte schon in den 1980er Jahren schütteres Haar.) Missplatziert in einem leeren Konzertlokal am späten Nachmittag, wo gerade der Soundcheck stattfindet und er am Abend auftreten wird? Kann sein. Bloss, gibt es überhaupt ein passendes Setting für ein solches Treffen? Kann ein Popstar der Jugend so glanzvoll sein, wie man sich das wünscht?

Mark Reilly, 63, ist Matt Bianco. Der in einem Londoner Vorort Aufgewachsene und noch immer in der Gegend Lebende war anfangs der Songschreiber und Sänger. Zur Band, deren Name eine Erfindung ist und an einen Geheimagenten erinnern soll, gehörten weiter ein brasilianischer Bassist, der bald in sein Land zurückkehrte, ein Keyboarder sowie eine polnische Sängerin; der Keyboarder und die Sängerin verfolgten zwanzig Jahre lang ihre eigene Laufbahn, bevor sie 2004 mit Reilly ein weiteres Matt-Bianco-Album veröffentlichten. Und Reilly arbeitete die meiste Zeit mit einem Keyboarder, der kurz für Wham spielte, die Band von George Michael und Andrew Ridgeley. Matt Bianco als One-Hit-Wonder (oder Three-Hits-Wonder) zu beschreiben, wäre nicht ganz zutreffend; aber auch nicht völlig daneben.

Er gebe im Schnitt dreissig Konzerte jährlich, sagt er in einem Zimmer, in das wir uns zurückgezogen haben. Von eigentlichen «Touren» könne man nicht sprechen, er werde für punktuelle Shows gebucht. Er reist am Morgen des Auftrittstags an – London Gatwick–Basel Euro-Airport, mit Easy Jet –, hat nach der Landung einen freien Nachmittag, spielt am Abend sein Konzert, schläft danach im Hotel und fliegt am folgenden Vormittag retour nach LGW.

So sieht die Realität eines Musikerlebens aus. Nicht schlecht also, aber KMU-Handlungsbevollmächtigter-mässig und irgendwie anders, als man sich das vorgestellt hat.Matt Biancos Anfang verlief, wie so oft, zäh. Plattenlabel-Spürnasen seien Anfang der 1980er Jahre nicht offen für von Jazz- oder Latin-Grooves beeinflusster Musik gewesen, erzählt er. Reilly und seine Bandkollegen liessen sich dennoch nicht von ihrer bevorzugten Stilrichtung – er sei oft mit Latinos ausgegangen und von ihnen musikalisch beeinflusst gewesen – abbringen. Und plötzlich hatten sie damit «a kind of success», einen bestimmten Erfolg.

Das Musikangebot von Radiostationen war breiter, das heute im Mainstream übliche Hitradio-Format, in dem bloss Platz ist für die vierzig bestverkaufenden Songs, noch nicht erfunden. Weshalb auch antizyklische Musik Airplay bekam. Dann sei alles schnell gegangen, sehr schnell, sagt er. Eine Vertriebsvereinbarung mit einer Major, einer grossen Musikfirma, konnte abgeschlossen werden. Die Zukunft sah strahlend aus, so strahlend, dass er die Sonnenbrille, die er in einem der aufkommenden Musikvideos trug, auch nächtens nicht abzusetzen brauchte. Bis es dann doch anders kam, natürlich.

Ein richtiger Deal – Vertrag über drei Alben oder so – bei einem fetten Label kam nicht zustande. Möglicherweise neigten die Plattenbosse zu Zweifeln an der Nachhaltigkeit des Minitrends, vielleicht waren sie nicht ganz überzeugt von der Band. Was in Reillys Augen aber keinen Grund zur Sorge darstellte. Schliesslich sei Matt Bianco big in Japan, eine grosse Nummer in Japan, gewesen. Ein Song sei dort für einen Werbespot benutzt worden, und danach passierte das, was heute «viral gegangen» heisst: Die Musik gelangte in alle Ohren, die Band in alle Köpfe Japans, es folgten Promotions- und Konzerttouren durchs Land et cetera. Das Problem: Bei dem Stück aus der Reklame handelte es sich um eine Coverversion, das Original des Songs war von den Doobie Brothers, die Rechte hielt ihr Verleger. Und Reilly lernte, dass man im Land der aufgehenden Sonne auch untergehen kann.

Zurück in London entschied er sich, mit Matt Bianco weiter als Freelancer unterwegs zu sein. Der Vorteil des unabhängigen Musikers: Er ist frei wie ein Vogel, kann singen und aufnehmen, wonach ihm der Sinn steht, nicht was sein Labelboss als «nächstes grosses Ding» zu erkennen meint und verkaufen zu können glaubt. Der Nachteil: Es ist keiner da, der ihm hilft, ihn berät und so weiter, von einem, der die Rechnungen zahlt, gar nicht zu reden. War das der Grund dafür, dass eine Laufbahn, die vielleicht zu Welthits geführt und aus Mark who? Mark «Superstar» Reilly gemacht hätte, nicht stattfand?

Man weiss es nicht, und mutmassen ist müssig. Ein Faktum aber ist: Die Londoner Sängerin Helen Folasade Adu, berühmt, wie für viele Stars üblich, unter bloss einem Namen, Sade nämlich, verkaufte mit ihrem vergleichbaren Smooth Jazz ab Mitte der 1980er Jahre bis heute mehr als hundert Millionen Tonträger. Unter anderem darum, weil sie stets marktmächtige Musikmultis in ihrem schönen Rücken gehabt hatte, die sie gefördert oder, strenger ausgedrückt, in den Massenmarkt geführt hatten. Und auf Sade folgten Diana Krall, eine weitere Semi-Jazzerin, sowie die männlichen Gegenstücke Michael Bublé, Jamie Cullum und so weiter. Die Reihe lässt sich fortschreiben bis zu Norah Jones mit ihrer Stimmungsaufhellungsmusik, die nicht rein zufällig in «Starbucks»-Cafés auf der ganzen Welt gespielt und verkauft wird.

«Get Out of Your Lazy Bed»

«Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist», singt man. Mir erschien Mark Reilly zufrieden, wenn auch nicht besonders tiefschürfend oder grübelnd, ein bloke halt, wie man in London einen Kumpel nennt, mit dem man freitags gern ein Pint trinken geht. Zudem auch ein Pragmatiker und Profi. «Klar hätte ich mehr machen können und sollen», sagt er. Aber auch: «Es ist, wie es ist.» Und schlecht ist es nicht: Er macht seit über vierzig Jahren Musik, seine Musik. Und er lebt davon, ziemlich gut.

Nie musste er als Musiklehrer, Kellner oder Schuhverkäufer arbeiten, um sich und die kleine Familie durchzubringen. Er ist, auch das läuft der Vorstellung vom Popstar eher entgegen, seit 45 Jahren mit der gleichen Frau zusammen, er war achtzehn, sie sechzehn, als sie sich kennenlernten, das Paar hat eine 27-jährige Tochter. Er konnte immer auftreten sowie reichlich aufnehmen, bei Spotify gibt es fünfzehn Matt-Bianco-Studioalben (er unterhält seit Jahrzehnten sein eigenes Tonstudio); besonders gefragt waren und sind seine Musik sowie Konzerte in Holland, übrigens, doch auch in der Schweiz gibt es eine Fangemeinde.

Während der Pandemie hat er seine fast vierzigjährigen Stücke neu aufgenommen, mehr als das, sagt er, «zeitgemäss reinterpretiert», nämlich. Das jüngste Album (von 2022) heisst «The Essential Matt Bianco: Re-Imagined, Re-Loved». Er verfolgt also seine eigene Leitidee, mit der er 1984 erstmals auf sich aufmerksam machte, noch immer: «Get Out of Your Lazy Bed».