Diesen Brief schickte der ungarische Ministerpräsident und EU-Ratspräsident Viktor Orbán am 12. Juli an Charles Michel, den Präsidenten des Europäischen Rates. Wir dokumentieren ihn im Wortlaut und übersetzt.

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

im Folgenden finden Sie eine zusammenfassende Bewertung meiner jüngsten Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Chinas, der Türkei und Präsident Donald J. Trump sowie einige Vorschläge, die Sie berücksichtigen sollten.

1. Es ist eine allgemeine Feststellung, dass die Intensität des militärischen Konflikts in naher Zukunft radikal eskalieren wird.

2. Es wurde persönlich beobachtet, dass die Kriegsparteien entschlossen sind, sich tiefer in den Konflikt zu verstricken, und keine von ihnen möchte Initiativen für einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen ergreifen. Daher können wir davon ausgehen, dass die Spannungen nicht abnehmen werden und die Parteien nicht ohne erhebliche externe Beteiligung nach einem Ausweg aus dem Konflikt suchen werden.

3. Es gibt drei globale Akteure, die in der Lage sind, die Entwicklung zu beeinflussen: die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und China. Als wichtiger regionaler Akteur ist auch die Türkei zu berücksichtigen, die als einziger erfolgreicher Vermittler zwischen der Ukraine und Russland seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten im Jahr 2022 agiert.

4. China wird seine auch in internationalen Dokumenten formulierte Politik fortsetzen, die einen Waffenstillstand und Friedensgespräche fordert. China wird jedoch nur dann eine aktivere Rolle spielen, wenn die Erfolgsaussichten seines Engagements annähernd sicher sind. Dies ist nach chinesischer Einschätzung derzeit nicht der Fall.

5. Was die Vereinigten Staaten betrifft, so habe ich auf dem Nato-Gipfel und bei meinen Gesprächen mit Präsident Trump erfahren, dass die USA derzeit stark mit dem Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt sind. Der amtierende Präsident unternimmt immense Anstrengungen, um im Rennen zu bleiben. Es ist offensichtlich, dass er nicht in der Lage ist, die derzeitige kriegsfreundliche Politik der USA zu ändern, und man kann daher nicht erwarten, dass er eine neue Politik einleitet. Wie wir in den letzten Jahren oft gesehen haben, wird die Bürokratie in solchen Situationen ohne politische Führung den bisherigen Weg weitergehen.

6. Bei meinen Gesprächen mit Präsident Trump bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Aussenpolitik in seinem Wahlkampf, der von innenpolitischen Fragen dominiert wird, nur eine kleine Rolle spielen wird. Deshalb können wir bis zu den Wahlen keine Friedensinitiative von ihm erwarten. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass er kurz nach seinem Wahlsieg nicht bis zu seiner Amtseinführung warten wird, sondern sofort bereit sein wird, als Friedensvermittler aufzutreten. Er hat dafür detaillierte und fundierte Pläne.

7. Ich bin mehr als überzeugt, dass sich im wahrscheinlichen Fall eines Wahlsiegs von Präsident Trump das Verhältnis der finanziellen Lasten zwischen den USA und der EU bei der finanziellen Unterstützung der Ukraine deutlich zu Ungunsten der EU verändern wird.

8. Die europäische Strategie im Namen der transatlantischen Einheit hat die Pro-Kriegs-Politik der USA kopiert. Wir haben bisher keine souveräne und unabhängige europäische Strategie und keinen politischen Aktionsplan. Ich schlage vor, darüber zu diskutieren, ob die Fortführung dieser Politik in der Zukunft sinnvoll ist. In der gegenwärtigen Situation können wir mit einer starken moralischen und rationalen Basis ein Fenster der Gelegenheit finden, um ein neues Kapitel in unserer Politik zu beginnen. In diesem neuen Kapitel könnten wir uns bemühen, die Spannungen abzubauen und/oder die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Waffenstillstand zu schaffen und/oder Friedensverhandlungen aufzunehmen.

9. Ich schlage vor, eine Diskussion über folgende Vorschläge einzuleiten:

a. die Initiative, politische Gespräche auf hoher Ebene mit China über die Modalitäten der nächsten Friedenskonferenz zu führen;

b. Aufrechterhaltung der derzeitigen politischen Kontakte auf hoher Ebene mit der Ukraine, Wiederaufnahme direkter diplomatischer Kontakte mit Russland und Wiederherstellung solcher direkten Kontakte in unserer politischen Kommunikation;

c. die Einleitung einer koordinierten politischen Offensive gegenüber dem globalen Süden, dessen Wertschätzung wir in Bezug auf unsere Haltung zum Krieg in der Ukraine verloren haben, was zur globalen Isolierung der transatlantischen Gemeinschaft geführt hat.

10. Ich hoffe, dass sich meine Berichte und Anregungen als nützlicher Beitrag zu möglichen Vorschlägen und Initiativen erweisen, die Sie den Staats- und Regierungschefs der EU bei geeigneter Gelegenheit und in einem angemessenen Format vorlegen werden.

Mit freundlichen Grüssen

Viktor Orbán