Dieser Beitrag von Weltwoche-Verleger und -Chefredaktor Roger Köppel erschien zuerst auf Focus online. Es handelt sich um die Replik auf Focus-Kolumnist Jan Fleischhauers Kritik an Köppels Russland-Reise. Seinen Kolumnen-Text – «Was ist nur mit meinem Freund Roger Köppel geschehen?» – finden Sie abgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Weltwoche. Die Redaktion.

Sprachlich brillant, wie immer, humorvoll, mit überlegener Ironie, fast schon überzeugend, kritisiert Jan Fleischhauer, langjähriger Freund und Kollege, meine jüngsten Anstrengungen, die aus meiner Sicht erdrückende, gefährliche Einseitigkeit unserer Ukraine-Berichterstattung aufzubrechen.

Ich bekenne mich schuldig! Ich war in Moskau, fand die Reise höchst interessant, würde sofort wieder gehen, habe eine Menge gelernt und in meinen Augen nichts anderes getan als meine journalistische Pflicht, nämlich mit allen zu reden, vor allem mit jenen, mit denen niemand mehr redet. Ich empfehle das übrigens jedem: Raus aus der Höhle der eigenen Vorurteile, rein in die Wirklichkeit!

Natürlich hat Fleischhauer recht: Wenn ich schon in Putins Reich der mutmasslichen Finsternis geisterfahre, hätte ich alles viel besser machen können und vielleicht auch besser machen müssen, härter fragen, besser formulieren.

Ich bedanke mich bei meinem kritischen Beobachter, beim aufmerksamen Focus-Kolumnisten aus Pullach bei München, einem malerischen Vorort einer der schönsten Städte Deutschlands. Doch in jeder Idylle am Waldrand, lieber Jan, lauert auch eine Gefahr: Ich nenne es die Sofabequemlichkeit der Ferndiagnose, die sich so wunderbar einfügt ins eigene, stets unfehlbare Urteil. Auch Dir rufe ich zu: Geh mal raus! Die Welt ist interessant und oft anders, als man sie sich zu Hause vor dem Bildschirm so schön zurechtschreibt.

Natürlich muss man mit den Russen reden – der Angeklagte möge sich verteidigen

Nichts geht über den eigenen Eindruck. Er mag auch falsch sein. Aber nichts ist falscher als der schwerbewaffnete Gleichschritt der Medien, nicht erst seit diesem Krieg. Schon früher war es krass, seit Corona wird es immer krasser. Vor zwanzig Jahren standen die Amerikaner am Pranger, als sie den Irak in Schutt und Asche legten, 400.000 Tote; Präsident Bush und seine Getreuen waren die Bösen. Damals fuhr ich nach Washington, um die «Schurken» vors Mikrofon zu bringen.

Weil es Fleischhauer ähnlich sah wie ich, schrieb er im Spiegel keine Kolumne dagegen. Heute scheint er zu glauben, er besitze die Wahrheit und die Moral. Ich habe die Wahrheit sicher nicht. Und schon gar nicht die Moral. Mit Goethe: «Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.» Deshalb bringe ich in der Weltwoche alle Meinungen. Das ist Demokratie für mich, Auswahl, Vielfalt vor Einfalt. Möge der Leser entscheiden.

«Wenn’s den Teufel gibt, dann mache ich mit ihm Interview.» So beginnt mein Bericht über den russischen TV-Superstar und Propagandisten Wladimir Solofjow, jüdisch-russischer Herkunft, Studium in den USA. Fleischhauer findet das unterirdisch. Redet er nur mit Heiligen? Natürlich muss man mit den Russen reden. Audiatur et altera pars. Der Angeklagte möge sich verteidigen.

Die meisten bei uns verbunkern sich hinter Feindbildern. Wer nur schon die Frage aufwirft, ob die Amerikaner mit ihrer Nato-Ausdehnung bis in die Ukraine diesen Krieg wenn nicht provoziert, so doch in Kauf genommen haben, wird in keine deutsche Talk-Show mehr eingeladen. Alles andere als die Behauptung, Putin sei das absolute Böse, vielleicht kein neuer Hitler, das dann doch nicht, aber locker auf der Stufe Stalins, wird als gotteslästerliche Verharmlosung attackiert.

«Die Kriegstreiber und Kreuzzügler sind wieder unter uns»

Eine Woche nach meinem Moskau-Titel lautete die Weltwoche-Cover-Zeile: «Putin ist ein Faschist». Für den Kolumnisten Fleischhauer ist das sumpfiger Relativismus. Für mich ist das Journalismus. Einer meiner Gesprächspartner, Russe, Abschluss in Harvard, Fellow in Princeton und Yale, Ex-Mitarbeiter von Gorbatschow, Jelzin und Putin, heute in der Industrie, fragte mich: «Hätte Putin warten sollen, bis die Amerikaner ihre Atomraketen auf dem Roten Platz aufstellen?» Ein anderer, Übersetzer, Germanistik-Studium in Leipzig, seufzte enttäuscht, dass wir im Westen den «brutalen Krieg» der ukrainischen Regierung gegen die russischsprachige Minderheit im Donbass seit 2014 einfach ausblenden. Stattdessen dämonisiere man die Russen.

Einer meiner Lieblingsfilme ist Stanley Kubricks «Dr. Strangelove», eine bitterböse, wunderbare Satire auf den Kalten Krieg, die amerikanische Sowjet-Paranoia und den Wahnsinn des nuklearen Zeitalters. «Die Russen wollen uns an die Körpersäfte», fletscht zu Beginn in seinem Bunker der US-General Jack D. Ripper, unnachahmlich gespielt von Sterling Hayden mit einer Langstreckenrakete von Zigarre im Mund, nachdem er gerade den Atomkrieg entfesselt hat.

Steinigt mich, aber die «Dr. Strangeloves» sind wieder unter uns, die Kriegstreiber und Kreuzzügler, die unsere Welt in eine absurde neue Version des Kalten Kriegs stürzen wollen, nach Russland soll es gegen China gehen, der endgültige industrielle Selbstmord Europas. Sind wir eigentlich verrückt geworden?

«Ich glaube nicht, dass in der Ukraine unsere Freiheit verteidigt wird»

Ich weiss nicht, ob Jan Fleischhauer das alles richtig findet oder gar begrüsst, aber wenn er tatsächlich der Auffassung ist, dass in der Ukraine unsere westliche Zivilisation verteidigt wird, dann sollte er sich an der Seite von Annalena Baerbock freiwillig zum Dienst melden. Ich würde das an seiner Stelle tun, denn es ist einfach nur blanker Zynismus, «bis zum letzten Ukrainer für unsere Freiheit zu kämpfen», wie es der republikanische US-Senator Lindsay Graham im Stil von Jack D. Ripper formuliert.

Ich glaube nicht, dass in der Ukraine unsere Freiheit verteidigt wird. Die Ukrainer haben jedes Recht auf Selbstverteidigung, klar, aber wir dürfen es doch nicht zulassen, dass die ganze Welt in einen Konflikt zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken hineingezogen wird. Inzwischen liefern die Briten Langstreckenraketen an Selenskyj. Schlafwandeln wir in ein nukleares Inferno?

«Wir sollten uns einsetzen für eine Welt der friedlichen Koexistenz»

Die «Strangeloves» wollen uns einreden, die Russen und die Chinesen seien unsere Feinde. Auch hier sehe ich es anders. Die grossen Zivilisationen sind sich ähnlicher geworden, bei allen Unterschieden, die ideologischen Gegensätze von einst sind Geschichte. Zum Glück. Natürlich wird es nach wie vor Kriege geben.

Grossmächte sind Raubtiere, alle, und gerade wir in Europa, die so viele Raubtiere haben kommen und untergehen sehen auf den von ihnen aufgetürmten Leichenbergen, sollten dem Kriegsgebrüll der Raubtiere widerstehen. Wir sind ein Kontinent der Kriegsgeschädigten und der Kriegsverlierer. Das ist unsere Stärke. Diese Erfahrung haben wir den Amerikanern voraus. Europa als leidgeprüfte Grossmacht des Friedens – dafür plädiere ich.

Wir sollten uns einsetzen für eine Welt der friedlichen Koexistenz, des Freihandels, der Zusammenarbeit, der politischen Beilegung von Konflikten. Um nochmals den alten Goethe auszugraben: Mir schwebt ein Europa als «west-östlicher Diwan» der Verständigung vor, ein verschweizertes Europa gewissermassen, das als Brücke dient zwischen Ost und West und Nord und Süd, ein Europa, das nicht das «absolut Böse» braucht, um sich selber gut zu finden, sondern bescheiden bleibt, das Gespräch aller mit allen sucht und fördert: Gleichgewicht statt Dominanz, Balance aller Interessen statt Verabsolutierung der eigenen. Intelligente Journalisten wie Jan Fleischhauer könnten dazu einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten.