Der Streik der US-Hafenarbeiter, der am 1. Oktober 2024 in vierzehn Häfen mit 25.000 Arbeitern an der Ostküste bis zur Golfküste begann, hat eine bisher wenig beachtete Achillesferse der USA zum Vorschein gebracht. Über die bestreikten Häfen kommen etwa 40 Prozent der in Containern transportierten Güter ins Land. Die Häfen von Baltimore und Brunswick gelten als wichtige Autoverladehäfen, in Philadelphia werden vorab Früchte und Gemüse verschifft, und in New Orleans kommen Kaffee, Chemikalien und Holz an Land. Auslöser war das Auslaufen des Kollektiv-Arbeitsvertrages für 45.000 Hafenarbeiter in 36 Häfen.

Der Streik wurde nach drei Tagen am 4. Oktober glücklicherweise bis zum 15. Januar 2025 aufgeschoben. Dieser «Waffenstillstand» bis nach den Wahlen kam dank einer Intervention der Biden-Regierung zustande. Die National Retail Federation, die landesweite Vereinigung von rund 300 Detailhandelsgruppen, hatte eine Intervention des Präsidenten gefordert, weil sie Lieferengpässe im Vorfeld des Weihnachtsgeschäftes befürchtete. Auch die Notlage infolge der Grossschäden des Hurrikans Helene (ca. 110 Milliarden Dollar) dienten als Argument, die Streiks zu suspendieren.

Es dürfte aber vor allem um die US-Präsidentschaftswahlen gegangen sein, denn bei einer substanziellen Störung der US-Wirtschaft hätte man diese vor allem den Demokraten angelastet und deren Wahlchancen unterlaufen. Der US-Präsident hat zwar die Kompetenz, den Taft-Hartley Act von 1947 anzurufen und Streiks durch eine präsidiale Verfügung zu beenden. Aber Präsident Biden wollte nicht gegen die Gewerkschaften und deren Stimmkraft bei den Wahlen vom 5. November 2024 vorgehen, sondern stellte sich auf deren Seite – angeblich, um einheimische Hafenarbeiter gegen europäische und asiatische Container-Schiffsreedereien, die während der Pandemie kräftig verdient hatten, zu schützen. Dass die höheren Kosten auf die Preise überwälzt werden, die breite Bevölkerungskreise treffen werden, kümmert den Präsidenten offensichtlich nicht. Es dürfte um eine Lohnerhöhung von schätzungsweise zwischen einer und zwei Milliarden US-Dollar gehen.

Die Bosse der Gewerkschaft International Longshoremen’s Association hatten ursprünglich 77 Prozent Lohnerhöhungen für ihre Mitglieder in den nächsten sechs Jahren gefordert, sie geben sich bis zum 15. Januar 2025 aber vorderhand mit 62 Prozent zufrieden. Unter den bisherigen Verträgen verdient ein Hafenarbeiter zwischen 25 und 39 Dollar pro Stunde. Der Mindestlohn 2024 in den USA liegt zwischen 5,14 Dollar (Wyoming) und 17,50 Dollar (District of Columbia). Die Gewerkschaften jubeln, dass ihre Löhne bereits im ersten Jahr stärker steigen würden als bisher jeweils für sechs Jahre ausgehandelt. Die Gewerkschaft fordert nebst den Lohnerhöhungen ein Versprechen, dass keine Automatisierung oder Halb-Automatisierung der Hafenaktivitäten erfolge. Diese Forderung wiegt sogar noch schwerer.

Mit der Verschiebung weiterer Verhandlungen auf Januar 2025 wurde vorderhand ein grosser Schaden abgewendet, denn Lieferkettenunterbrüche hätten zu wirtschaftlichen Einbussen in den USA von gegen fünf Milliarden Dollar pro Tag geführt. Nebst Produktionsausfällen drohten auch Staus der Schiffe vor dem Entladen. Damit wären Kapazitäten blockiert worden, was die Frachtpreise in die Höhe getrieben und möglicherweise einen erneuten Inflationsschub ausgelöst hätte. Aufgeschoben ist jedoch nicht aufgehoben. Aber nicht nur deshalb ist dieser Streikt, der erste seit fast fünf Jahrzehnten, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Es sind nicht nur Lohnforderungen, sondern vor allem die Angst um Jobverluste wegen der Einführung von Schiffs-Entlade-Robotern, die den Arbeitskampf entfacht haben.

Die amerikanischen Häfen gelten im Vergleich mit den meisten anderen Häfen, vor allem in Fernost, als ineffizient. Als bester amerikanischer Hafen ist im Ranking 2023 der Weltbank, die 405 Häfen bewertete, jener von Philadelphia auf Platz 50 anzutreffen. Aber der Hafen von Philadelphia rangiert nicht unter den Top-10 US-Häfen. Die sechs wichtigsten liegen im globalen Ranking weit abgeschlagen. Der grösste, Los Angeles (Anteil am Umschlag US-Häfen: 17,4 Prozent), liegt auf Rang 378. Es folgen Long Beach (15,1 Prozent, Rang 376), Newark und New York (14,5 Prozent, Rang 99), Savannah (7,7 Prozent, Rang 398), Houston (6,2 Prozent, Rang 327), Seattle (5,3 Prozent, Rang 356).

Die Angst um Jobverluste scheint so ausgeprägt, dass der Gewerkschaftsboss Daggett nicht nur das 50-Prozent-Angebot der Hafenbetreiber ausschlug. Er drohte zudem auch mit Arbeitsniederlegungen der Autoverkäufer, der Bauarbeiter und des Shopping-Center-Personals. Daggett werden enge Verbindungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt, und die Hafenarbeiter verteidigen ihr Territorium, wie wenn sie selbst Besitzer der Hafenanlagen wären.

Der Machterhalt und das Einkassieren von Gewerkschaftsbeiträgen scheint für die Gewerkschaftsbosse wichtiger zu sein als das Wohlergehen des Landes. Und Präsident Joe Biden verschiebt Probleme lieber, als sie zu lösen. Aus Sicht der Hafenbesitzer (United States Maritime Alliance) geht es wohl nicht nur um die enormen Lohnsteigerungen, sondern auch um die Warenumschlagszeiten, denn wenn diese dank Automatisierung verkürzt werden kann, erhöht sich die Kapazität der Häfen ohne teure Ausbauten, die Wartezeiten der Frachtschiffe und die Lieferfristen für die Import- und Exporteure werden reduziert.