Streit ist das Lebenselixier der Freiheit. Ohne Auseinandersetzung gibt es keine Demokratie. An beidem herrscht Mangel. Wir haben keine Streitkultur mehr, weder in Deutschland, in Österreich noch in der Schweiz. Die Gesellschaft ist überempfindlich geworden. Sie duldet keinen Widerspruch, keine Störung. Was irritiert, wird abserviert. Wird der Bürger unbequem, ist er plötzlich rechtsextrem. «Putin-Versteher», «Corona-» oder «Klima-Leugner» sind die Kampfbegriffe eines neuen Moralismus. Sie sind das Symptom unserer Zeit, die keine Auseinandersetzung wünscht. 

Das Gegenteil von Streitkultur ist Cancel-Culture. Wir sind im Begriff, die Demokratie zu verlernen beziehungsweise deren Voraussetzung: den Streit, die Auseinandersetzung, die Diskussion gerade mit Andersdenkenden. Man hört auf, sich mit den Argumenten von Leuten zu befassen, die es anders sehen als man selber. «Brandmauern» sortieren die Bevölkerung in jene, die dazugehören, und alle anderen, mit denen man nicht mehr reden soll. Der Aberwitz liegt darin, dass ausgerechnet jene, die die Brandmauern errichten, die Demokratie zu retten glauben. 

Ausdruck dieser Unkultur der Gesprächsverweigerung sind die Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, Simulationen, Diskussionsattrappen, in denen die Teilnehmer so tun, als streiten sie. Meistens haben alle die mehr oder weniger gleiche Meinung. Wenn nicht, was kaum mehr vorkommt, arten die Diskurse in Tribunale aus, in Beleidigung, Herabsetzung. Debatten in der Politik vollziehen sich zusehends unter Gleichgesinnten, die die Nichtanwesenden anschwärzen. Die Etablierten geisseln die «Nazis», die «Nazis» moralisieren zurück und beschimpfen ihre Beleidiger als «Idioten».

Wer den andern nur noch verächtlich macht, moralisch herabsetzt, nimmt ihn nicht mehr ernst. Genauso unernst ist das verlogene Einvernehmen, das unter jenen zelebriert wird, die sich, wie heute etwa in Deutschland, als «Demokraten» gegen die angeblichen «Nichtdemokraten» stellen. Was fehlt, weitgehend fehlt, ist die Diskussion der Differenzen. Erschreckend selbstverständlich ist der Ruf nach Parteiverboten geworden, nach Ächtung unerwünschter Meinungen. Aber «falsche» Meinungen soll man nicht verbieten, man muss sie widerlegen. 

Es braucht mehr Streit, mehr Auseinandersetzung. Jetzt läuft es in die falsche Richtung. Man «cancelt», was irritiert, bis nur noch Gleichgesinnte übrigbleiben, die schrecklich nette, «anständige», «nichtpopulistische» Scheindiskussionen führen, in denen man keine Argumente mehr austauscht, sondern eine salonfähige Verlogenheit, ein betrügerisches Einvernehmen inszeniert. Auf der Strecke bleibt die Debatte, die Auseinandersetzung. Und die Folge der einseitigen Pseudodebatten sind einseitige, falsche Entscheidungen, wie man jetzt reihenweise sieht in der Klima- oder Geopolitik. 

Kritik ist Ausdruck von Respekt. Indem ich kritisiere, mir die Mühe mache, dem anderen zuzuhören, seinen Argumenten nachzudenken, um sie dann mit hoffentlich besseren Argumenten zu zerlegen, zeige ich meinen Respekt vor der anderen Sicht. Der Austausch von belanglosen Freundlichkeiten ist Gleichgültigkeit, ist ein Nichternstnehmen der Sache, ist der Verzicht auf das, was die Demokratie am Ende ausmacht. Absurd sind die Kreuzzüge unserer Regierungen im Namen der Demokratie gegen «Autokratien», während sie die Demokratie zu Hause ausser Kraft setzen.

Streit ist kein Selbstzweck. Er ist notwendiger Bestandteil auf der Suche nach Entscheidungen. Nur dort, wo ich ein Problem, verstanden als Differenz zwischen Ist- und Soll-Zustand, von möglichst allen Seiten anschaue, mehrere Lösungen kritisch gegeneinander abwäge, habe ich Gewähr, nicht einfach die erstbeste, erstschlechteste Variante zu wählen. Die Qualität einer Entscheidung, ob in Familie, Beruf oder Politik, bemisst sich an der Qualität der Auseinandersetzung, die ihr vorausgegangen ist. 

Der relativ miserable Zustand Europas, das Verpassen der eigenen Ziele und die erschreckende Erkenntnis, dass wir im Wettbewerb, in der Wirtschaft, in der Bildung, der öffentlichen Sicherheit und auch in der geopolitischen Bedeutung zurückfallen, einen insgesamt nicht sehr erfreulichen Eindruck hinterlassen, liegt genau darin: Wir haben aufgehört, Diskussionen zu führen, uns mit dem Establishment und seiner Politik kritisch auseinanderzusetzen. Statt Streitkultur hatten wir Cancel-Culture.

Entsprechend mies war die Qualität der Entscheidungen. Es begann beim Klima. Die Politik traf extreme, radikale Entscheidungen, weil die Überzeugten, emotional entflammt, sich ihrer Sache dermassen sicher waren, dass sie Kritiker zu Verrückten oder Verbrechern stempelten. Bei Corona ging es weiter. Doch durchschauten immer mehr Unzufriedene die Gefahr dieser neuen Selbstherrlichkeit der Macht. Erdrückend war die Meinungseinfalt nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Als Folge gab die Schweiz sogar ihre Neutralität teilweise preis. 

 

Rechthaberei, Intoleranz, Gesprächsverweigerung, Moralismus, politische Korrektheit, Wokeismus, Cancel-Culture statt Streitkultur: Anstatt das Machtgehabe der Regierenden zu hinterfragen, machen die Medien mit als Souffleure, Hofschranzen, Denunzianten, Sprachrohre, Verlautbarungsorgane, schreibende Bodyguards der Obrigkeit. Nicht mehr der «herrschaftsfreie Diskurs» nach Habermas ist das hohe Ideal. Als chic gilt es, an der Seite der Mächtigen, von oben, auf die weniger Mächtigen da unten einzudreschen, auf die zahlreicher werdenden Unzufriedenen, die sich wehren gegen die Meinungseinfalt, gegen den medial-gouvernementalen Komplex.  

Aber zum Glück haben Cancel-Culture und politische Korrektheit, hat das Kreuzzugsdenken, das Dogma, der Kampf gegen die Wirklichkeit keinen Bestand. Früher oder später gewinnt die Realität. Die Frage ist nur, zu welchem Preis. Dass sich etwas bewegt, merken wir bereits. Die Brandmauern bröckeln. Die Zahl der Unzufriedenen wächst. Neue Medien entstehen, einigen der alten scheint es zu dämmern. Sind das erste Symptome einer Wende zurück zur Vernunft, zur Sachlichkeit, zu Streit und Auseinandersetzung, zur Demokratie, die den Namen Demokratie auch verdient? 

Davon bin ich überzeugt. Und die Pointe ist, dass die Rückbesinnung vor allem von jenen getrieben wird, die man mit Brandmauern verhindern und zum Schweigen bringen wollte