Berlin

In seiner ersten Wahlkampfrede am Mittwoch im Bundestag bekräftigte Oppositionsführer Friedrich Merz wieder einmal, dass er als Bundeskanzler Deutschlands Mittelstreckenraketen des Typs Taurus an die Ukraine liefern würde. Diese nachweislich hochwirksame Fernlenkwaffe von grosser Reichweite würde es der Regierung in Kiew erlauben, mit grösster Präzision Ziele in Russland zu treffen, zum Beispiel den Kreml. Da der Taurus sehr tief fliege, sei er, erklären Militärkreise, äusserst schwierig abzufangen. Auf Grund seiner komplexen Technik wäre zudem die unmittelbare Präsenz deutscher Experten an der Front nötig. Um den Taurus abzufeuern, müssen Deutsche den Abzug drücken. Das ist die Situation.

Aufgrund der grossen Bundestagsdebatte und der anschliessenden Berichterstattung habe ich den Eindruck, den Bewohnern der Bundesrepublik ist nicht ganz klar, was diese einschneidende, weichenstellende Absichtserklärung ihres mutmasslich nächsten Kanzlers bedeutet. Kommt es wie angekündigt im nächsten Februar zu Neuwahlen und wird wie absehbar die CDU eine relative Mehrheit holen, dann ist Merz der neue Regierungschef. Mutmasslich wird er an seinem Kabinett auch den gerade noch rechtzeitig sich aus der Ampel abseilenden FDP-Vorsitzenden Christian Lindner beteiligen. Auch der abtretende Finanzminister stellte in seiner Rede am Mittwoch in Aussicht, den Taurus gegen Russland einzusetzen. Merz und Lindner scheinen wild, blind entschlossen, kräftig zu drehen an den Schrauben der Eskalation.

Ist den beiden Spitzenpolitikern bewusst, was sie mit solchen Entscheidungen heraufbeschwören würden? Präsident Putin hat wiederholt erklärt, und seine Leute unterstützen ihn darin, dass Russland einen Angriff aufs eigene Territorium mit konventionellen Waffen, sofern von einer Nuklearmacht unterstützt, als existenzielle Bedrohung betrachte, die man gegebenenfalls mit einem taktischen Nuklearschlag beantworte. Putins Vorgänger Dmitri Medwedew hat diese Lesart im Nachgang zur Merz-Rede mit der ihm eigenen Drastik unterstrichen. Kurz: Aus Sicht des Kreml erklären die von den USA unterstützten Deutschen, Aussenposten amerikanischer Atomraketen, den Russen den Krieg, wenn sie Taurus an die Ukrainer liefern, mit der äussersten Konsequenz, dass im äussersten Ernstfall die russischen Streitkräfte nuklear zurückschlagen.

Ich behaupte keineswegs, dass dieses Szenario notwendigerweise eintritt. Ich glaube auch nicht, dass es besonders wahrscheinlich ist. Aber allein die theoretische Möglichkeit, dass Deutschland auf diese unmittelbare und verheerende Art und Weise zum Kriegsziel der weltweit grössten Atommacht werden könnte, verdient eine viel intensivere und seriösere Auseinandersetzung, als dies in der deutschen Politik und in den Medien derzeit der Fall ist. Der Berliner Betrieb bekundet Mühe, über das Chaos der unmittelbar drängenden Alltagsprobleme vor allem der Rezession und der illegalen Migration hinauszublicken. Zu Recht debattiert man Wege aus der Misere. Ausserdem beanspruchen die ewigen Regierungswirren erhebliche Aufmerksamkeit. Doch was nützen die schönsten Wirtschaftsreformen und Migrationslösungen, wenn die Bundesrepublik zum Trümmerfeld einer nuklearen Vergeltung, zu Schauplatz eines Dritten Weltkriegs wird?

Im Interview mit der Weltwoche hat AfD-Co-Chef Tino Chrupalla die hier geäusserten Gedanken in eine kampagnentaugliche Formel verdichtet: «Wer Merz wählt, wählt den Krieg.» Das war vor der Bundestagsdebatte am Mittwoch. Kurz danach habe ich mich auch mit Chrupallas Kollegin an der AfD-Spitze, Alice Weidel, unterhalten. Ich fragte sie, ob die AfD bei der Vertrauensabstimmung im Dezember nicht den schlingernden Kanzler unterstützen sollte. Scholz und sein Fraktionschef Mützenich sind gegen Taurus-Lieferungen. Muss die rechte Oppositionspartei, die keine Eskalation des Krieges will, zwingend die SPD und ihren Regierungschef unterstützen, um Friedrich Merz zu verhindern, der Deutschland blindlings in eine selbstzerstörerische Konfrontation mit Russland stürzt? Meines Erachtens: ja.

Die AfD-Parteispitzen haben dazu noch keine konsolidierte Position. Jedenfalls ist öffentlich nichts darüber zu erfahren. Aber sie scheinen das Thema aufgreifen und diskutieren zu wollen. Es geht hier ja nicht nur um eine exklusiv Deutschland betreffende Frage. Sollte Russland, was, wie gesagt, unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen ist, die Taurus-Lieferung und die damit verbundene Direktpräsenz deutscher Fachsoldaten auf dem Schlachtfeld als Überschreiten des Rubikon, als Verletzung der nuklearen roten Linie betrachten, hätte dies gewaltige Auswirkungen auf die ganze Welt, auf Europa besonders und natürlich auch auf die Schweiz. Umso wichtiger ist, dass die Deutschen diese Gefahr mit dem gebotenen Ernst zur Kenntnis nehmen. Das ist bis jetzt noch nicht der Fall.

Wäre ich Deutscher, würde ich alles daransetzen, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, erst recht, wenn sich abzeichnet, dass er hauptsächlich auf deutschem Territorium ausgetragen würde. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte scheint mir diese Forderung fast selbsteinleuchtend, ja offensichtlich, unübersehbar, doch manchmal übersieht man auch das Offensichtliche. Solange Merz und Lindner mit dem Taurus den Krieg dank direkter deutscher Beteiligung auf russischen Heimatboden tragen wollen, kämen beide für mich als Regierungsmitglieder, in welcher Funktion auch immer, nicht in Frage, obwohl ich viele, ja die meisten ihrer Positionen, vor allem, was die Wirtschaft angeht, teile. Aber Sicherheit und Frieden sind die entscheidende Voraussetzung, mehr noch: die unerlässliche Bedingung der Möglichkeit von Wohlstand überhaupt.

Nie und nimmer in der Führung darf man ein Risiko eingehen, wie klein auch immer, das einen zerstören kann, das in einer ohnehin sehr explosiven Lage die Wahrscheinlichkeit eines Kriegseinritts erhöht, ohne dass man selber ursprüngliches Ziel von Kriegshandlungen gewesen ist. Ich habe volles Verständnis dafür, wenn man sich über den russischen Angriff auf die Ukraine empört, wenn man helfen und etwas machen will. Aber in Fragen von Krieg und Frieden braucht es Politiker, die im Sturm der Gefühle einen nüchternen, sachlichen Blick auf die wahren nationalen Interessen ihres Landes bewahren.

Eine Lieferung von Marschflugkörpern mit der Schlagkraft des Taurus ist nicht nur eine Kriegserklärung an Russland. Sie ist auch eine Kriegserklärung an Deutschland und an Europa. Der CDU-Chef ist Transatlantiker durch und durch. Er neigt wie viele deutsche Politiker, wenn wunderts angesichts der vielen Privilegien, zu Eitelkeit und Überheblichkeit. Weit davon entfernt, Russland ernst, die russische Ernsthaftigkeit in dieser Frage auch nur schon zur Kenntnis zu nehmen, ist er im Begriff, vermutlich ohne es zu wollen und wohl auch ohne es zu ahnen, Schlafwandler auch er, einen Dritten Weltkrieg zu entfesseln. Darum darf Merz nicht Kanzler werden. R.K.