Als Deutschland wiedervereint war, musste entschieden werden, wo zukünftig die Bundesregierung und der Bundestag ihren Sitz haben sollten. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eröffnete die Diskussion und schlug Berlin vor. Schliesslich war er Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen und fühlte sich der Stadt besonders verbunden. Es entbrannte eine heftige Debatte. Die Befürworter Berlins argumentierten, der Beschluss, den Sitz von Parlament und Regierung nach Berlin zu verlagern, sei Ausdruck unserer Solidarität mit dem Osten Deutschlands. Zudem müssten Ost - und Westeuropa zueinanderfinden, und Berlin könnte dabei eine wichtige Brückenfunktion einnehmen.

Diejenigen, die dafür warben, Bonn als Regierungs- und Parlamentssitz beizubehalten, wiesen darauf hin, dass eine Entscheidung für Berlin in vielen Ländern ungute Erinnerungen wachrufen würde, da Berlin das Machtzentrum des Dritten Reiches war. Berlin war das Symbol eines Deutschlands, das seine europäischen Nachbarn überfallen hatte und Europa beherrschen wollte. Während die Stadt an der Spree für deutsche Grossmannssucht stünde, stehe Bonn für Bescheidenheit, demokratische Verlässlichkeit und aussenpolitische Zurückhaltung. In der Tat sorgten sich die europäischen Nachbarn, die Deutschen könnten wieder in die alte Rolle der europäischen Zentralmacht zurückfallen, die Europa dominieren will.

 

Erinnerungen an Bonn

In mehreren Gesprächen hat beispielsweise der französische Präsident François Mitterrand mir gegenüber diese Bedenken geäussert und immer wieder angemahnt, Deutschland solle jetzt nur ja nicht auch noch auf die Idee kommen, sich ebenfalls Atomwaffen zuzulegen. Die französische Atommacht, die Force de frappe, stelle sicher, dass Frankreich auch dem grösseren Deutschland auf Augenhöhe begegnen könne. Subtiler äusserte sich der ehemalige Ministerpräsident und Aussenminister Italiens, Giulio Andreotti. Darauf angesprochen, was er von der Wiedervereinigung halte, zitierte er den französischen Schriftsteller François Mauriac: «Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh darüber bin, dass es zwei davon gibt.»

Diejenigen, die das beschauliche Bonn als Regierungssitz beibehalten wollten, wussten, dass Kultur und Architektur einer Stadt das Verhalten der Menschen beeinflussen. Die Pariser beispielsweise ticken anders als die Franzosen in der Provinz. Und die imperialen Bauten der Weltmetropole befördern nicht den demokratischen Geist, sondern führen eher zu autoritären Denkstrukturen. Nicht umsonst hat der Architekt Norman Foster bei der Wiederherstellung des Reichstags eine gläserne Kuppel auf das Reichstagsgebäude gesetzt, Symbol einer modernen Demokratie, zu der Transparenz und Durchlässigkeit gehören.

 

Gorbatschows Verzweiflung

«In Berlin, da reden die Steine, und manche Steine schreien. Ich möchte, dass die, die Deutschland künftig regieren, mit diesen schreienden Steinen konfrontiert werden, jeden Tag», sagte der SPD-Politiker Erhard Eppler zur Begründung seines Votums für Berlin. Er hoffte, dass die Mahnmale der deutschen Geschichte den wilhelminischen Geist und den Geist des Nationalsozialismus endgültig aus Berlin vertreiben würden.

Er hat sich gründlich geirrt. Untertanengeist, Nationalismus, Militarismus, sogar erste Vorboten des Faschismus sind nach Berlin zurückgekehrt. Wer den Verweis auf den Faschismus als übertrieben ansieht, erinnere sich nur daran, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an den faschistischen ukrainischen Schriftsteller Zhadan verliehen wurde, der die Russen als Unrat, Tiere und Schweine bezeichnete. Bei der Preisverleihung applaudierten die Ampelpolitikerinnen Saskia Esken, Claudia Roth und Katrin Göring-Eckardt. Wenn die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock Russland «ruinieren» will, dann ist das eine faschistoide Sprache, weil es Kennzeichen des Faschismus ist, den Menschen und seine Leiden auszuklammern.

Auch die im vermeintlich linksliberalen Milieu so beliebte Cancel-Culture, die dazu führt, dass Menschen ausgeladen und mit einem Shitstorm überzogen werden oder im schlimmsten Fall ihre berufliche Existenz verlieren, ist zwar nicht mit der Bücherverbrennung gleichzusetzen, aber unendlich weit davon entfernt ist es nicht. Der seit der wilhelminischen Zeit berüchtigte deutsche Untertanengeist tobt sich im Verhältnis zu den USA aus, die die deutsche Aussenpolitik bestimmen, mit Nordstream eine zentrale deutsche Energieversorgungsleitung zerstörten oder zerstören liessen und mit den Grünen ihren verlängerten Arm im Deutschen Bundestag haben.

Kennzeichen des Nationalsozialismus waren Antisemitismus und Antislawismus. Heute unterstützt die Bundesregierung das korrupte Regime in Kiew, das die tausendfachen Judenmörder Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch zu Nationalheiligen erhoben hat. Und der Antislawismus spiegelt sich in der täglichen Hetze der deutschen Medien gegen Russland und in der Lieferung von Waffen wider, mit denen erneut Russen getötet werden. Verpflichten die 27 Millionen Menschen der Sowjetunion, darunter viele Millionen Russen, die Hitlers Vernichtungskrieg zum Opfer gefallen waren, die Berliner Republik wirklich zu nichts? Michail Gorbatschow war am Ende seines Lebens ziemlich verzweifelt. Das waren also die Deutschen, denen er trotz ihrer Verbrechen die Hand gereicht und die Wiedervereinigung ermöglicht hatte. Als er starb, konnte sich keiner der Repräsentanten der Berliner Republik dazu aufraffen, ihm in Moskau die letzte Ehre zu erweisen.

 

«Anspruch einer Führungsmacht»

«Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als Mittel der Politik zu sehen», verkündete der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil und räumte damit mal so nebenbei die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts ab, deren Maxime es war: «Von deutschem Boden darf niemals wieder Krieg ausgehen.» Er hat offensichtlich kein Gespür dafür, wie solche Worte in den europäischen Hauptstädten aufgenommen werden und welche Assoziationen sie wecken.

Den Vogel, wenn es um die neue Führungsmacht geht, schoss der Grünen-Politiker Robert Habeck ab. Den USA versicherte er: «Wenn Deutschland Verantwortung übernimmt, dann muss es dienend führen. Wir tun gut daran, Leadership nicht mit Pathos und Stolz gleichzusetzen.» Die Europäer beruhigte er: Deutschland müsse «ein zuhörendes Ansagen» praktizieren. Das wäre zwar keine feministische, aber eine fahrradgemässe Aussenpolitik: nach oben buckeln und nach unten treten. Mit diesem Bild beschrieben die Deutschen schon immer den Untertanengeist.

 

Oskar Lafontaine ist ehemaliger Vorsitzender der SPD und Finanzminister Deutschlands a. D.