Von aussen betrachtet, aus schweizerischer Sicht, ist die EU eine intellektuelle Fehlkonstruktion. Alle sind für alle verantwortlich und niemand für etwas. Das ist letztlich der Grund, warum weder die Einheitswährung Euro noch die europaweite Grenzsicherung funktionieren. Man kann nicht das gleiche Geld über so unterschiedliche Volkswirtschaften wie Deutschland oder Griechenland stülpen. Und Europas Aussengrenzen sind durchlässig, weil es für die Grenzstaaten bequemer ist, die Migranten weiterziehen zu lassen, als sie zu registrieren und die Verantwortung zu übernehmen.
Da im offiziellen Europa niemand über diese Widersprüche reden will, ist die Bereitschaft, sie zu beheben, gleich null, und entsprechend haben die Auftritte bekannter EU-Politiker immer etwas Pastorales, Surreales, der Wirklichkeit Entrücktes. Der Eindruck drängt sich auf, dass hier nicht präzise Darlegungen der Realität gegeben werden, echte Standortbestimmungen, sondern schöngeschminkte Wunschvorstellungen, Potemkinsche Dörfer der Einbildung und Rhetorik, Propaganda, die darauf abzielt, die Leute zu verschaukeln. In der Folge verliert die EU laufend an Vertrauen.
Das heisst nicht, dass die EU von der Idee her keine grossartige Sache wäre. Im Gegenteil. Die Europäische Union ist eine historische Errungenschaft, von ihren Urhebern aus edlen Motiven erfunden und gebaut, aber wie alles Menschengemachte fehlerbehaftet. Die EU ist ein grosses Friedens- und Wiederaufbauprojekt, gewiss, aber aus schweizerischer Sicht birgt die institutionalisierte moralische Überhöhung der EU das Risiko, dass die Diskussion über Schwächen zu kurz kommt. Kritiker sehen sich allzu schnell als «Europafeinde» und «Nationalisten» verunglimpft.
Derzeit hat der Moralismus in Brüssel Hochkonjunktur. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die EU grosse Probleme hat und die Verantwortlichen in Brüssel Angst vor Kritik und Diskussionen haben. Niemand verkörpert diese Neigung zur salbungsvollen Überheblichkeit zurzeit besser als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ihre letzte Rede, gleichzeitig eine Art Bewerbungsvortrag für die Wiederwahl, war ein Monument der Realitätsverweigerung, aus Sicht der EU-Bewohner ein Flop, eine Darbietung, die nicht überzeugen konnte.
Von der Leyen rief auf zu «Innovation» und «Unternehmertum», gleichzeitig wirkte ihre Aufzählung der Gesetzesakte, angefangen beim «Net-Zero Industry Act» bis hin zum «Critical Raw Materials Act» samt neuen Finanzmitteln für die EU-Industriepolitik, eher wie ein Einstieg in die Planwirtschaft. Die Präsidentin versprach einen 25-prozentigen Bürokratieabbau für die Unternehmen, doch angesichts immer neuer täglicher Gesetze, Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel sind solche Beteuerungen unglaubwürdig. Und die Meinung, dass die EU schon bald bei Digitalisierung und künstlicher Intelligenz zur Weltspitze aufgeschlossen habe, ist reine Illusion.
Ihr selbstherrlicher Rückblick zielte an der Realität vorbei. Migrationschaos, Staatsverschuldung, die desolate Wirtschaftslage, Verlotterung der Infrastruktur und die fragile Energieversorgung blieben weitgehend ausgeblendet. Von der Leyen beklagte unfaire Handels- und Subventionspraktiken im Ausland. Dabei war es die EU selbst, die den weltweiten Subventionskrieg ausgelöst hat. Die EU habe 90 Prozent ihrer Ziele erreicht, glaubt von der Leyen, aber die Frage ist doch, ob die angeblich erreichten Ziele die Wohlfahrt der Bürger fördern. Das war nicht der Fall. Die inflationsgetriebene EZB-Geldpolitik allein brachte massive Kaufkraftverluste. Seit 2019 hat sich die Situation für die Mehrheit der EU-Bewohner verschlechtert, nicht verbessert.
Die Vergemeinschaftung der EU-Schulden in Form eigener Anleihen von letztlich wohl 1000 Milliarden Euro sowie die Fehleinschätzungen zur Zinsentwicklung werden zu milliardenschweren Nachfinanzierungen führen. Woher von der Leyen das Geld nehmen will, bleibt unklar, da die Mitgliedstaaten nicht gewillt sind, höhere Beitragssätze zu akzeptieren. Auch die umstrittene Revision der Schuldenregeln umschiffte die Präsidentin. Ihre wichtigsten Kernforderungen lauteten:
Erstens: unbeschränkter Zugang der Ukraine zum EU-Binnenmarkt. Ausserdem weitere Milliardenversprechen an Kiew neben militärischer Hilfe. EU-Europa zahlt mittlerweile doppelt so viel für den Krieg wie die profitierenden USA.
Zweitens: Abschöpfung von «Übergewinnen» der Stromerzeuger. Von der Leyen will mehr als 140 Milliarden Euro absaugen, die Produzenten von Atom-, Kohle- und «Öko»-Strom angesichts der hohen Marktpreise erzielten. Da viele Betreiber in öffentlicher Hand sind, werden den Unternehmen die Mittel für künftige Investitionen entzogen.
Drittens: Um Chinas «Seidenstrasse» zu kontern, will sich die EU an einer direkten Verbindung zwischen Indien, dem Arabischen Golf und Europa beteiligen. Eine neue Eisenbahnlinie zwischen Europa und Indien soll den Verkehr um 40 Prozent beschleunigen.
Viertens: generell mehr Unabhängigkeit von China.
Fünftens: Statt das Erreichte zu festigen, träumt von der Leyen von einer Ausweitung der EU zu einem geopolitischen Gesundheits- und Verteidigungsbündnis von 27 auf 30 Mitgliedsländer. Die Kommissionschefin beabsichtigt, die EU immer tiefer in den russischen Orbit zu schieben, was die Spannungen mit Moskau nur verschärfen kann.
Fazit: Man hat das Gefühl, die Kommissionspräsidentin wolle mit grossräumigen bis grössenwahnsinnigen Fantasiegebilden von der Tatsache ablenken, dass die EU auf dem Boden der Wirklichkeit mehr Probleme verursacht als löst. Es geht weiter in Richtung Planwirtschaft und Moralismus. Die Unternehmer und Bürger haben grössere Lasten zu tragen. Ein Abbau der politischen Spannungen im Osten Europas ist ausser Sicht. Im Gegenteil. Von der Leyen treibt die Konfrontation mit Russland und China zum Schaden Europas noch voran. R. K.
Ich verstehe gar nicht die Kritik. Wir haben sie doch gewählt. Es ist doch unser aller Mehrheitswille. Oder habe ich da etwas nicht verstanden?
UvdL ist nicht Juncker. Dafuer fehlt ihr die Schlitzohrigkeit, das Gerissene, die Connections und vielleicht auch die mentale Kapazitaet. Waehrend Juncker die EU aber vor allem Luxembourg voranbrachte, hat es UvdL geschafft, nicht nur ihr eigenes Land heftig zu benachteiligen, sondern sie steht dafuer, dass die EU immer weniger Akzeptanz in Europa hat. Und wenn man ihre laecherliche Historie als Minister beruecksichtigt, wird sie immer wohlhabener, waehrend alles andere um sie herum verfaellt.