Budapest

Am Ufer der Donau steht der «Wal», ein grosses Moby-Dick-förmiges Konferenzgebäude, in dem jetzt die Konservativen aus den USA und aus Europa tagen. Zum zweiten Mal organisiert die regierende Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn dieses Zusammentreffen der Republikaner, die «Conservative Political Action Conference» (CPAC) der Amerikaner. Es ist auffällig, dass der Name Trump an diesem sonnigen Konferenztag kaum fällt. Man beschwört die gemeinsamen Werte des Westens, die Freiheit, die Familie, die Eigenverantwortung gegen das Unheil der Linken, der Grünen, der Sozialisten, der politisch Korrekten, die die Redner allesamt unter dem Kampfbegriff «woke» zusammenfassen. Ich halte auch eine Rede, allerdings störe ich etwas das Einvernehmen unter Gleichgesinnten. Das Bashing der woken Linken und Grünen hier ist mir zu billig. Die Linken waren immer schon woke. Viel mehr beunruhigen mich die woken Konservativen, die rechten Frömmler, die statt Konflikten nur Kreuzzüge und statt Kompromissen nur religiöse Kriege sehen.

Meine Rede kommt erstaunlich gut an. Viele Amerikaner fragen mich nachher, wen ich konkret gemeint habe. Ich verweise auf die Neocons in Washington, die jetzt auch hinter dem absurden, neuen, leider nicht nur kalten Krieg gegen Russland und China stehen. Ein junger Republikaner sagt mir, den Voldemort der USA doch noch ansprechend, mit Trump im Weissen Haus wäre das alles nie passiert und würde wohl auch sofort beendet werden. Mal sehen. Einer, der mir als Erster gratuliert, ist Václav Klaus, eine Legende der Politik, begleitet von seiner wunderschönen Partnerin Andrea. In seiner Rede nannte Viktor Orbán den früheren tschechischen Präsidenten «den weisesten Mann Europas». Er riet allen Politikern, Václav Klaus in Prag zu besuchen, den liberalen Ökonomen, der unter den Kommunisten die Stellung hielt, verfolgt wurde, nach der Wende Minister wurde, dann Premierminister und schliesslich Präsident.

Václav Klaus, 81, ein grosser Europäer, führte sein Land in die EU, sieht die Union heute aber als Gefahr für Europa, weil sie die Vielfalt opfere auf dem Hochaltar einer verfehlten und gefährlichen «Unifizierung». Gegen die neuen Sozialisten der Apokalypse, sei es Corona oder Klima, verteidigt Klaus die Freiheit gegen den Moloch eines wachsenden Staates. Besonders interessant ist seine Kritik an den westlichen Kriegstreibern im Konflikt um die Ukraine. Ausgerechnet er, der tschechische Freiheitsheld, der Liberale, der Freund der Amerikaner, unterdrückt und geknechtet von den russisch gesteuerten Kommunisten in Prag, wendet sich gegen Putin-Bashing und falsche historische Analogien. Wir beginnen das Interview. Und wer mit Präsident Klaus redet, diesem grossen Europäer, der so viel erlebt hat, lernt das Wichtigste: Freiheit heisst Widerspruch.

«‹Woke› ist eine Art Molotowcocktail fürchterlicher Ideologien, die geeignet sind, den Westen wegzuätzen.»Weltwoche: Präsident Klaus, was halten Sie von dieser Konferenz?

Václav Klaus: Das ist eine Konferenz, die vor allem von Ungarn und Amerikanern besucht wird. Darum habe ich mit grossem Interesse Ihrer Rede gelauscht, Herr Köppel. Sie brachten eine Sicht von aussen ein und haben gegen Ende Ihrer Ausführungen einen interessanten Punkt gemacht. Sie sagten, die woke-Linken beunruhigten Sie weniger als die woke-Rechten. Das gab zu reden, vor allem auch bei den Amerikanern im Publikum, die Sie damit wohl gemeint haben. Und ich darf sagen, dass ich mit Ihrer Analyse einverstanden bin.

Weltwoche: Was läuft heute falsch in den USA? Wir sind ja beide Bewunderer dieses Landes mit seiner grossartigen Freiheitstradition.

Klaus: Das ist richtig. Ich war Ökonomie-Professor in der kommunistischen Tschechoslowakei und ein Anhänger der freiheitlichen Chicagoer Schule der Ökonomie, was natürlich nicht gern gesehen wurde. Ich galt als antisozialistisch, antimarxistisch, anti-was-auch-immer. Mit dem Prager Frühling von 1968, als die sowjetischen Panzer die tschechoslowakische Freiheitsbewegung niederwalzten, wurden die USA für mich zum Sehnsuchtsort schlechthin. Das ist heute anders. Die USA haben sich verändert, leider nicht zum Guten. Für jemanden, der in den USA einst die Flamme der Freiheit sah, ist das eine deprimierende Entwicklung.

Weltwoche: Was ist aus Ihrer Sicht falsch gelaufen? Wann sind die USA falsch abgebogen?

Klaus: Ich habe ein Buch veröffentlicht: «Brave New West». Der Titel ist eine Anspielung auf «Brave New World», die Dystopie von Aldous Huxley. In meinem Buch fasse ich diese Entwicklung unter dem Begriff «woke» zusammen. Man könnte es auch Moralismus nennen. Gemeint ist eine Art Molotowcocktail fürchterlicher Ideologien, die geeignet sind, die mentale und institutionelle Struktur des Westens wie Säure wegzuätzen. Was wir einst für selbstverständlich hielten, ist auf einmal gefährdet: die Meinungsfreiheit, die Eigentumsrechte, die Demokratie.

Weltwoche: Woher kommt diese Tendenz des Menschen, aus allem eine Religion zu machen? Ich dachte bisher, vor allem die Deutschen seien in dieser Hinsicht gefährdet.

Klaus: Ich wünschte, ich wüsste es. Was ich sagen kann: Der Westen hat die woke-Kultur nicht importiert, sondern selbst geschaffen.

Weltwoche: Ein Aspekt dieses Phänomens ist die woke-Aussenpolitik. Auch Konservative lassen sich dazu hinreissen und machen aus jedem Interessengegensatz zweier Staaten eine Frage von Gut und Böse. Man sieht sich im Bund mit Gott und zieht in Kriege gegen Andersdenkende wie einst die Kreuzritter im Mittelalter. Wohin führt das noch? Schlafwandeln wir in eine absurde Version des Kalten Kriegs? In einen dritten Weltkrieg?

Klaus: Ich stimme Ihrer Analyse der woke-Aussenpolitik zu. Wohin das führt, ist unabsehbar. Sicher ist: Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist auch ein Krieg zwischen dem Westen und Russland. Und über dessen Ende wird in Washington entschieden. Weil Präsident Biden im November 2024 nochmals zur Wahl antreten will, wird er den Krieg wohl weiterlaufen lassen. Jetzt einen Frieden zu machen, wäre für ihn vermutlich zu kompliziert. Ich bedaure das sehr. Zu den Opfern des Kriegs gehört auch unsere Diskussionskultur. Man darf nichts mehr kritisieren. Kaum jemand redet mehr von der falschen Migrationspolitik, von der verhängnisvollen Klimapolitik. Alle haben sich einzureihen.

Weltwoche: Sogar Leute wie Amerikas Elder Statesman Henry Kissinger werden niedergemacht, wenn sie für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts plädieren.

Klaus: Er wird am 27. Mai hundert Jahre alt. Ich organisiere zu seinen Ehren eine kleine Konferenz in Prag. Es ist ein Versuch, seine Politik des aussenpolitischen Realismus wieder bekannter zu machen. Wir brauchen dringend mehr Realpolitik, vor allem in den USA. Über die EU möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht reden.

Weltwoche: Ich habe Kissinger dieses Jahr am World Economic Forum [WEF] erlebt. Er war die einzige vernünftige Stimme dort.

Klaus: Ich besuchte das WEF sechs Wochen nach dem Ende des Kommunismus zum ersten Mal. Ich war wohl als so eine Art Kronzeuge der Freiheit geladen. Die Diskussionen eröffneten mir neue Horizonte, und ich reiste in der Folge jedes Jahr nach Davos – insgesamt siebzehnmal, glaube ich. Bei meinen letzten paar Besuchen hatte ich das Gefühl, das WEF entwickle sich in eine falsche Richtung. Ich schrieb darüber in einer tschechischen Zeitschrift einen Artikel mit dem Titel «Homo Davosensis». WEF-Chef Klaus Schwab muss davon gehört haben. Jedenfalls wurde ich seither nie mehr eingeladen.

«Wir erleben den Versuch, alles zu vereinheitlichen, alles unter ein Joch zu zwängen.»Weltwoche: Sie sagten, Sie wollten über die EU eigentlich gar nicht reden. Leider kann ich Ihnen das Thema nicht ganz ersparen. Ich traf kürzlich Präsident Orbán zum Interview. Er sagte, die EU habe im Ukraine-Konflikt noch 2014 und 2015 eine wichtige Rolle gespielt, nach der Krimkrise, als in Minsk die Friedensabkommen verhandelt wurden. Heute sei die EU kein Machtfaktor mehr. Meine spontane Antwort darauf lautete, das liege an der EU selbst. Sie schwäche die alten, stolzen Nationalstaaten, ohne etwas Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen. Europa sei verschwunden. Was halten Sie von dieser These?

Klaus: Zunächst protestiere ich immer, wenn EU und Europa gleichgesetzt werden. Natürlich gibt es immer noch eine europäische Kultur. Aber politisch ist der Kontinent geschwächt, keine Frage. Und das liegt zweifelsohne an der EU. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich bin kein Gegner der europäischen Zusammenarbeit. Ich reichte als Ministerpräsident das EU-Beitrittsgesuch der Tschechischen Republik ein und unterzeichnete als Staatspräsident das Beitrittsprotokoll. Leider hat sich die EU nicht wie erhofft entwickelt. Wir erleben den Versuch, alles zu vereinheitlichen, alles unter ein Joch zu zwängen. Das hat die Stimme Europas zum Schweigen gebracht.

Weltwoche: Was können Konservative dagegen tun?

Klaus: Erstens einmal müssen wir das Timing im Griff haben. Umgelegt auf die Sowjetunion: Stehen wir im Jahr 1987 oder 1953? Ist das Ende nah oder fern? Ich glaube, wir stehen erst am Anfang. Diese fehlgeleitete EU wird nicht morgen oder übermorgen überwunden sein. Was also tun? Als ehemaliger Minister- und Staatspräsident kann ich die Leute schlecht dazu aufrufen, in den Strassen zu revoltieren. Ich kann nur jedem, der meine Problemanalyse teilt, raten, in politischen Parteien mit vernünftiger Zielsetzung mitzumachen.

Weltwoche: Gibt es für Sie heute unter Europas Politikern einen Hoffnungsträger?

Klaus: Einzig meinen Freund Viktor Orbán. Sonst sieht es düster aus. Die CDU nennt sich zwar konservativ, ist aber inzwischen das Gegenteil davon. Was mir Hoffnung macht, sind die Politiker der zweiten und dritten Reihe. Ich lerne immer wieder gute Leute kennen.

Weltwoche: Wo sehen Sie Europas Rolle in der Welt? Soll der Kontinent, mit Goethe gesprochen, ein west-östlicher Diwan werden, eine Brücke der Verständigung in einer Welt, die zunehmend multipolar geprägt ist?

Klaus: Das halte ich für einen guten Vorschlag. Die multipolare Welt ist eine Tatsache. Das haben sich die Amerikaner auch selbst zuzuschreiben, weil sie in den letzten dreissig Jahren ihre Stellung als Hegemon missbraucht haben. Sie sind nicht mehr automatisch das leuchtende Vorbild aller aufstrebenden Nationen.

Weltwoche: Zum Schluss: Welche Botschaft ist Ihnen die wichtigste?

Klaus: Ich möchte mit Karl Popper antworten: «Optimismus ist Pflicht».

Weltwoche: Herr Präsident, ich danke Ihnen für das Gespräch.