Vergangene Woche war ich in Schanghai, wo die grösste Automesse der Welt nach drei Jahren Corona-Pause erstmals wieder stattfinden konnte. Ich war Gast des chinesischen Elektrofahrzeugherstellers Nio (auf Deutsch: Der blaue Himmel kommt), und vielleicht sind meine Eindrücke deshalb nicht ganz unbelastet. Aber der Rundgang durch die Messehallen, die sich auf die Fläche einer Schweizer Kleinstadt ausdehnen, und der ausführliche Einblick in die Aktivitäten und das Unternehmenskonzept von Nio waren ein interessanter Perspektivenwechsel.

Wenn ich in einer verantwortungsvollen Position bei einem europäischen und insbesondere deutschen Automobilhersteller wäre, würde ich mir Sorgen machen. Die Zeit, als man sich in Europa mit gönnerhafter Arroganz über chinesische Autokopien lustig machen konnte, ist vorbei. Eine ganze Reihe Hersteller hat an der Messe in Schanghai gutdesignte Elektroautos ausgestellt. Zwar blicken diese Marken nicht auf eine lange Geschichte zurück und haben vielleicht auch noch nicht das Qualitätsniveau von Audi, VW oder BMW. Aber das eine kann sich schnell ändern, und das andere ist möglicherweise nicht mehr so wichtig.

In Schanghai war ich mehrere Stunden in einem Nio ET5 unterwegs. Europäer dürfen in China kaum Auto fahren, aber ich wurde stundenlang in der eleganten Mittelklasse-Limousine durch die Stadt gefahren. Das Unternehmen von Gründer und CEO William Li positioniert sich im Premium-Segment, und das ist dem Auto in jedem Detail anzumerken. Die Materialien, die Verarbeitung, die Geräuschdämmung, die Lichtinszenierung und vieles mehr liegen auf dem Niveau – oder darüber –, was etwa deutsche Hersteller heute anbieten. Ein vergleichbarer Tesla Model 3 liegt klar darunter, allerdings auch in Bezug auf den Preis.

Der ET5 kostet in Deutschland inklusive grosser 100-kW-Batterie für 590 Kilometer Reichweite rund 68 500 Franken, mit einigen Optionen noch etwas mehr. Die Batterie lässt sich auch monatlich mieten. Was Nio von der Konkurrenz weltweit unterscheidet, ist die Möglichkeit, die leere Batterie an eigens entwickelten Wechselstationen in wenigen Minuten gegen einen vollen Akku auszutauschen. Die Wechseltechnik ist nachhaltiger für die Akkus, besser für das Stromnetz und vorteilhafter für die Kunden. Sie können zum Beispiel eine kleinere Batterie mieten und bei Bedarf gegen eine grössere für die Langstrecke tauschen.

Nio ist aber auch wegen seines Gemeinschaftsgedankens bemerkenswert: Die Kunden bilden eine Community, es gibt eigene Nio-Häuser als Mischung zwischen Autohandel, Shop, Café und Co-Working-Space. Das mag einen leicht religiösen Anstrich haben, könnte aber den jungen Kunden von morgen entgegenkommen. Im nächsten Jahr will Nio auch auf den Schweizer Markt kommen, das wird mit Sicherheit interessant.

Nio ET5

Motor/Antrieb: 2 Elektromotoren, Allradantrieb, 1-Gang-Getriebe; Leistung: 360 kW / 489 PS; max. Drehmoment: 700 Nm; Batterie (Li-Ionen): 100 kW; Ladeleistung (DC): 140 kW; Beschleunigung (0–100 km/h): 4,0 sec; Höchstgeschwindigkeit: 200 km/h; Reichweite (WLTP): 590 km; Verbrauch (WLTP): 17,9 kWh / 100 km; Preis (Deutschland): EUR 68 500.–