Die Benachteiligung von Frauen beginnt schon im Kindergarten, nein, noch früher, in der Gebärmutter, und hält dann unser ganzes Leben lang an. Überall kann man, im Ton sentimentaler Dringlichkeit, lesen, wie ein frauenfeindliches System uns die Chancen im Beruf raubt, die Dominanz der Männer uns einschüchtert und ihre Unterdrückung uns im Job kleinhält. Alles Gründe, angeblich, warum es weniger Chefinnen gibt.

Das ist bemerkenswert, denn gerade bin ich auf eine McKinsey-Studie von 2012 gestossen, die ein differenzierteres Bild zeigt: Bei einsteigenden Berufstätigen streben nur 18 Prozent der Frauen eine C-Level-Position an, gegenüber 36 Prozent der Männer. Die grosse Mehrheit dieser Frauen hält einen Chefposten gar nicht für erstrebenswert? Das überrascht mich etwa so sehr wie graues, tristes Wetter im November.

Machen wir noch den kleinen Umweg über den Gender-Pay-Gap. Eine Studie des Pew Research Center vom März hat ergeben, dass Frauen unter dreissig Jahren in bestimmten Regionen der USA gleich viel oder mehr verdienen als ihre gleichaltrigen männlichen Kollegen. Ein Analyst erklärt das laut BBC mit Faktoren wie Bildung, Berufswahl und Mutterschaft. In Städten, wo Frauen bessere Bildungschancen haben, und in Regionen, wo etwa die Bildungsbranche (viele ansässige Schulen) dominiert, in der Frauen stark vertreten sind, sind ihre Löhne tendenziell höher als die der Männer. Mutterschaft kann das Einkommen aufgrund von Arbeitsunterbruch und Reduktion des Arbeitspensums verringern. Meine Interpretation wäre also, dass Lohnunterschiede viel mit Wohngegend (bzw. sozialer Zugehörigkeit) und eigenen Entscheiden zu tun haben und wenig mit dem Patriarchat.

Zurück zu den Chefs. Eine nüchterne Zustandsaufnahme der Bildungschancen in unseren Breitengraden zeigt: Mädchen haben bessere Noten als Buben. Über die Hälfte der Studenten an Hochschulen ist weiblich, sowohl bei den Eintritten als auch bei den Abschlüssen. Es sind befähigte, gutgebildete, später gutverdienende Frauen mit Führungsqualitäten, die eigentlich beste Voraussetzungen für den Weg in eine gewünschte Führungsposition mitbringen – aber Achtung jetzt, die Realität könnte das Weltbild ins Wanken bringen: Ab einem gewissen Punkt im Leben, in der Regel im Alter von 30, 35 Jahren, entscheiden sich viele qualifizierte Frauen gegen den hochdotierten Chefposten und für einen «normalen» Nine-to-five-Job. Ihre Prioritäten liegen tendenziell und jenseits der dreissig beim Muttersein. In diesen Momenten ist auch Geld keine grosse Motivation, denn meistens sind sie zu dem Zeitpunkt verheiratet, man lebt gut mit zwei Einkommen, braucht also das Extra-Einkommen der Chefposition nicht, um sein Leben dramatisch aufzuwerten.

Die Vorstellung des Chefseins ist für so manche ja diese: morgens mit dem Villeroy-&- Boch-Coffee-to-go-Becher im Glaspalast einmarschieren, Entspannung im Büro bei viel Lob und viel Ruhm, Lunch im Sterne-Lokal, sich abends vor dem Nach-Hause-Kommen noch eine Massage gönnen oder wahlweise mit Ausbeutergefährten beim Feierabenddrink auf den Kapitalismus anstossen.

In Wahrheit bedeutet eine Chefposition, nebst Disziplin, viel Verantwortung, viel Stress, viel Druck. Wer Karriere machen will, muss ein Stück weit mehr opfern als die anderen. Mehr Einsatz, mehr Risikobereitschaft, längere Arbeitszeiten. Die Familie am Wochenende mehr alleine lassen, in den Ferien arbeiten. Ein Job als oberster Leiter eines Unternehmens ist ein Privileg, für das man – wenn es die Situation erfordert – auch bereit sein muss, Nächte durchzuarbeiten, erreichbar zu sein. Ansonsten wäre da die Frage: «Letztlich, wenn du für nichts verantwortlich bist, warum gibt es deine Position überhaupt?» «Es zwingt dich ja niemand dazu», mag man jetzt einwenden. Sicher, nur wenn du’s nicht tust, wird’s ein anderer tun. Es braucht einen überdurchschnittlichen Willen, diese Beschwerlichkeiten auf sich zu nehmen. Tendenziell sind Männer eher für diesen Lifestyle bereit als Frauen.

Aber auch viele Männer halten einen Chefposten nicht für erstrebenswert. Es ist nur eine relativ kleine Gruppe, die bereit ist, einen beachtlichen Teil ihrer Lebensqualität dem Erfolg in der Chefetage unterzuordnen. Bei karrierebewussten Menschen ist das Hirn oft so gepolt, dass die Priorität dem Job gehört – auch wenn es bedeuten mag, selbst unter dieser Priorisierung zu leiden, wenn etwa die Familie das fünfte Wochenende hintereinander zu kurz kommt. Der Drang, mehr zu erreichen als der Durchschnitt, besser zu sein, an der Spitze zu stehen, ist Teil ihrer DNA. Grundsätzlich nehmen Männer die Welt kompetitiver wahr als Frauen, und das Konkurrieren mit anderen stellt eine Herausforderung dar, über deren Meistern sie sich stark definieren.

Im Jahr 2022 entscheiden Frauen selbst über ihre Karriere, wenn sie denn ihr Potenzial ausschöpfen. Dass sie diese Wahl haben, ist eine der grössten Errungenschaften der modernen Welt – und auch des klassischen Feminismus. Aber wen interessieren schon solche Details, wenn es doch bequemer ist, für sämtliche Geschlechterunterschiede irgendeinen Schuldigen verantwortlich zu machen.