Der Titel dieses Editorials ist geklaut. Den Satz erstmals geschrieben hat der deutsche Überphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), eine Monumentalfigur des 19. Jahrhunderts, vermutlich einer der klügsten und fleissigsten Menschen, die je gelebt haben, brillant, auf eine nicht unsympathische Art grössenwahnsinnig, zu wenig wirklich gelesen, oft missverstanden, für die einen ein Held, für die anderen eine finstere Gestalt, die sie für ein paar der schrecklichsten geistigen Verwirrungen der Menschheit verantwortlich machen, unter anderem für den Marxismus.
Ich sehe das anders. Hegel war ein Genie. Ich kann nicht behaupten, alle seine Schriften gelesen, geschweige denn verstanden zu haben, aber unser Professor an der Uni hatte zu diesem schwierigen Autor eine vernünftige Devise: Hegel lesen sei wie fliegen. Wer es zu langsam tue, stürze ab. Man muss sich also auf diesen Denker mit dem Mut zur fundierten Oberflächlichkeit stürzen. Dann, und vielleicht nur dann, kann daraus eine fruchtbare Beziehung werden. Für meine Hegel-Lektüre, die mit Unterbrüchen über dreissig Jahre dauert, trifft es zu.
«Das Wahre ist das Ganze.»: Diesen Satz Hegels verstehe ich so, dass man die Welt nur begreifen kann, wenn man alles in seinen Zusammenhängen und Gegensätzen als das Produkt geschichtlicher Prozesse, eben als Ganzes sieht. Nichts ist allein aus sich selbst heraus verständlich, die Wirklichkeit ist ein dauerndes Werden und Vergehen, ein Gemenge von Kräften und Gegenkräften, Tendenzen und Widertendenzen, die sich gegenseitig erzeugen und erklären. Hegel war ein scharfsinniger Diagnostiker, der die Philosophie als Methode sah, die dem Denken, ja dem Menschen ganz allgemein innewohnende Einseitigkeit zu überwinden.
Viele sehen in Napoleon heute einen fürchterlichen Diktator und Massenmörder, der Hunderttausende in den Tod trieb und am Schluss alles verspielte, was er aufgebaut hatte. Für Hegel war der «Empereur» der «Weltgeist zu Pferde», der Universalmensch der damaligen Zeit, Verkörperung aller Gegenwartstendenzen, die der Philosoph in seinen Schriften zu fassen versuchte, ein bis heute unerreichtes Denkgebäude. Hegels Werk ist eine Art Kölner Dom der Philosophie, so kühn und so vollkommen, dass beim Betrachter das Staunen fast schon in Misstrauen umschlägt.
Hegel trotzte dem Herdentrieb des Menschen, stellte die Freiheit ins Zentrum seines Denkens.
«Das Wahre ist das Ganze»: Diesen Satz Hegels verstehe ich so, dass man die Welt nur begreifen kann, wenn man alles in seinen Zusammenhängen und Gegensätzen als das Produkt geschichtlicher Prozesse, eben als Ganzes sieht. Nichts ist allein aus sich selbst heraus verständlich, die Wirklichkeit ist ein dauerndes Werden und Vergehen, ein Gemenge von Kräften und Gegenkräften, Tendenzen und Widertendenzen, die sich gegenseitig erzeugen und erklären. Hegel war ein genialer Diagnostiker, der die Philosophie als Methode sah, die dem Denken, ja dem Menschen ganz allgemein innewohnende Einseitigkeit zu überwinden.
Hegel erkannte: Einseitigkeit ist Gift, der grösste Feind des Denkens. Wir würden hinzufügen: nicht nur des Denkens, sondern auch des Handelns. Wer nur eine Seite sieht, sieht bestenfalls die Hälfte, denkt folglich einseitig, entscheidet einseitig, handelt einseitig und damit irrig. Vermutlich würden bis hierhin die meisten beipflichten, aber sobald wir Hegels Befund auf die Gegenwart anwenden, ist die Einigkeit dahin. In fast allen Themen, die wir heute diskutieren, regiert die Einseitigkeit, regiert das «abstrakte Denken», wie Hegel formuliert, scheint Einseitigkeit geradezu Pflicht.
Hegel war ein Philosoph des Verstehens. Vielleicht war Hegel der grösste Versteher, den die Welt je gesehen hat. Er hätte wohl sarkastisch gelächelt, wenn ihm einer gesagt hätte, dass die philosophisch-aufklärerische Tugend des Verstehenwollens einmal unter Verdacht geraten würde. Vielleicht hätte er auch nicht gelächelt und stattdessen zu verstehen versucht, warum Menschen, anstatt sich der Instrumente ihres Denkens frei zu bedienen, dazu neigen können, gleichsam eine Hirnhälfte abzuschalten, um der Einseitigkeit zu erligen und die Vielseitigkeit zu ächten.
Kein Denker fehlt heute schmerzlicher als Hegel. Sei es Klima, Corona, Gender oder jetzt der Krieg in der Ukraine. Die Diskussionen darüber laufen bei uns derart einseitig, dass die Ergebnisse dieser Diskussionen nur schon deshalb nicht stimmen können. Die fletschende Intoleranz, mit der die angeblich richtigen Meinungen bei uns vorgetragen werden, hat längst etwas im schlechten Sinn Religiöses, etwas Sektiererisches. Hegel kannte dieses Phänomen, den Tugendterror, die Gesinnungsraserei der Französischen Revolution. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Einseitigkeit ist Einfalt, und beides wäre gemäss Hegel auch ein Symptom des Verfalls von Institutionen. Demokratie heisst Auswahl, Vielfalt. Sie muss sichergestellt werden durch Gesetze, Parteien, Medien, Kirchen, Vereine, alle Bürger, Regierungen. Wenn alle Parteien mehr oder weniger das Gleiche erzählen, wenn die Medien den Regierungen nachschreiben, wenn Kirchen dem Zeitgeist huldigen, statt Widerstand zu leisten, wenn sich das Gefühl ausbreitet, man könne seine Meinung nicht mehr sagen, ohne dafür bestraft oder ausgegrenzt zu werden, ist etwas faul im Staat.
«Das Wahre ist das Ganze»: Hegel war ein genialer Philosoph und Schriftsteller, wenn auch mit einem etwas sperrigen Stil. Hegel trotzte dem Herdentrieb des Menschen, stellte die Freiheit ins Zentrum seines Denkens, die Freiheit, ja den Mut, das Ganze sehen und verstehen zu wollen. Nichts kann ohne sein Gegenteil, seine Gegenkraft verstanden werden, rechts nicht ohne links, Russland nicht ohne Amerika, Europa nicht ohne Asien, die Schweiz nicht ohne die EU, kein Krieg ohne die Geschichte aller Kriegsparteien, die sich daran beteiligen.
Hegels Denken der Vielseitigkeit alles Wirklichen ist der Feind der Propaganda. Wir leben in Propaganda-Zeiten. Darum ist das Verstehen verboten, steht «das Ganze» unter Verdacht, ist die Wahrheit unerreichbar geworden und die Lüge zur Norm. Wir brauchen mehr Hegel, mehr Vielfalt, weniger Propaganda, mehr Verstehen. Das Ganze, die Wahrheit, muss wieder gedacht werden dürfen. Hegel ist eine Radikalkur zum Gift des einseitigen, kriegerischen Denkens. Das macht ihn zum Philosophen nicht nur der Freiheit, sondern zu einem der weltgrössten Denker des Friedens.
Lieber Roger Köppel, Danke für dieses wunderbare Essay! Herzliche Grüße Isabel und Achim aus Ottenbach in Baden -Württemberg , Partnergemeinde von Ottenbach in der Schweiz
Grosse Philosophen & Meister des Denkens mögen durchaus interessant & herausfordernd sein. Aber sie sind nicht das, was die heimat- und sinnverlorene Gesellschaft heute braucht. Vielmehr müssten die Menschen wieder zu sich selbst finden. Das, was bereits intrinsisch im Menschen angelegt ist, gilt es zu entdecken. Da findet sich bestimmt nicht Streit, Krieg, Hass oder der Drang, Andersartigkeit zu canceln. Viel lieber wollen wir unsere Bedürfnisse nach guten Beziehungen & Autonomie stillen.
Hegel beschreibt eigentlich einen Magnetstab. Nie kann man beim Magnetstabe den Nordpol vom Südpol abtrennen. Es bleiben immer beide zusammen. Nur der Gutmensch glaubt heute, dass er das kann.
Ich muss es einfach tun: Ihnen Herr Köppel schreiben, um zu danken für diese weisen Betrachtung sowie für ihr Sein und wichtiges Wirken mit ihrer Weltwoche. Einfach brillant!!!
Moment mal. Hegel? War das nicht der Typ, der geschrieben hat: "Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist", der also den Etatismus in seinen 'Grundlinien der Philosophie des Rechts' transzendental verklärt hat?
Ich zitiere Sie , Herr Köppel:
„Wenn die Medien den Regierungen nachschreiben, statt Widerstand zu leisten, ist etwas faul im Staat.“ Wie recht!
Sagen Sie bitte den Regierungen in Moskau, Peking, Teheran, Ankara etc, dass es in ihren Staaten so faul ist, dass es zum Himmel stinkt, und das laut, deutlich und unmissverständlich!
Das hat nichts mit den jeweiligen Kulturen zu tun, welche wir wertschätzen. Staatsterror verdient aber kein Verständnis!
Hätte Hegel sagen wollen, nur das Ganze sei das Wahre, hätte er doch in der ihm eigenen Präzision gesagt "das Ganze ist das Wahre". Mit "das Wahre ist das Ganze" wird doch die Unterscheidung angesprochen, dass Anspruch auf Wahrheit nur das Ganze erheben kann und nicht seine Teile. Das ist ein Unterschied.
Das Wahre ist der Teil. Was Hegel noch nicht wissen konnte und K. noch nicht weiss: wird ein diffuser, überlagerter, mehrdeutiger, irrealer Quantenzustand gemessen, so reduziert es sich auf einen bestimmten realen (Eigen-)Wert: (Zustandsreduktion, Kollaps der Wellenfunktion). Der Teil ist das Reelle. Schrödinger, nicht Einstein.
Einfach zu widerlegen: Philosophieren bedeutet Staunen und Bezweifeln. Kant staunte über den gewölbten Himmel. Demokratie ist die Staatsform des Zweifel(n)s, besonders, dass ein Herrscher, eine Zentralinstanz es am besten wisse und dass er/sie quasi auf ewig an der Macht bleiben könne und solle (Demokratie sei Herrschaft auf Zeit, sagte ein Deutscher Politiker). Nicht-Demokratie ist deshalb Nicht-Philosophieren. Philosophieren + Nicht-Philosophieren = die Wahrheit, weil das Ganze?
Hr. Köppel schreibt sonst doch so gern vom 'Leben'. Wenn man diesen Begriff noch zurecht erweitert auf den der Existenz, so gibt es eigentlich nur zwei wichtige Fragen: 1. das Leiden 2. der Sinn. Das Leiden, dessen Erklärung und Umgang sind die Kardinalsfragen im Buddhismus (mehr als im Hinduismus) und im Christentum. Scheinbar gänzlich verschiedene transzendente Endziele in diesen grossen Strömungen . Nichts davon bei Hegel.
Wahrheitsanspruch der Regierungen/Regimes geschätzt: Nordkorea 100%, Rotchina 95% (100% - 5% Kapitalismus), Russland 90% erreicht mit Propaganda, Deutschland 70%, USA, Schweiz,... 60%. Ganzheitlichkeit Nordkorea 2%, Russland 30%, China 40%, USA 70%, Schweiz 90%.
Das politische Mittel der Wahl für das Ganze ist selbstverständlich die Demokratie. Da der Ukraine-Krieg einer ist zwischen westlicher Demokratie und asiatischer Despotie, outet sich Köppel als opponierend zur Ganzheit. Auch wenn damit Geschichte Russlands und Interessen Putins einbezogen sind.
Gehört Ihrer Meinung nach denn die "asiatische Despotie" nicht zur Ganzheit?
Und finden Sie es richtig, dass über Menschenrechte demokratisch entschieden werden kann? Falls Ja, finden Sie Todesstrafe und Folter je nach Land richtig – also dessen Anwendung in der Demokratie der USA richtig und das Verbot in der Schweiz zugleich auch?
Rhetorischer Trick. Zur Gesamtheit gehörte auch Nazi-Deutschland, Stalin-Russland, Kaiser-Japan, Pol-Pot-Kambodscha. Wandern Sie doch dorthin aus, wenn es gleichwertig ist.
Man vergleiche Hegel mit Schopenhauer. Klar, dass die Mitleidenschaft Schopenhauers keinen Anklang findet bei Köppel. Hat er je von Katz oder Hund, Ross oder Igel berichtet? Hegels Ganzheit ist funzelig im Vergleich mit modernen Holistischen Theorien.
Grosse Philosophen & Meister des Denkens mögen durchaus interessant & herausfordernd sein.
Aber sie sind nicht das, was die heimat- und sinnverlorene Gesellschaft heute braucht.
Vielmehr müssten die Menschen wieder zu sich selbst finden.
Das, was bereits intrinsisch im Menschen angelegt ist, gilt es zu entdecken. Da findet sich bestimmt nicht Streit, Krieg, Hass oder der Drang, Andersartigkeit zu canceln. Viel lieber wollen wir unsere Bedürfnisse nach guten Beziehungen & Autonomie stillen.
Vielleicht sollte NR Köppel seinen Hegel auch ernster nehmen. Wenn man z.B. in Sachen Energie die einseitige WW-Berichterstattung zugunsten der AKW's anschaut, während bei PV, Windkraft etc. regelmässig auf die eingedroschen wird, dann kann man den ganzheitlichen Ansatz nicht erkennen, beim der Klimaproblematik ebenso wenig auch wenn Prof. Knutti ab und zu mal ein Feigenblattinterview zugestanden wird. Dass alle anderen selbstüberhöhend moralisierend seien, nur RK nicht ist auch so eine Mär.
Hegel beschreibt eigentlich einen Magnetstab. Nie kann man beim Magnetstabe den Nordpol vom Südpol abtrennen. Es bleiben immer beide zusammen. Nur der Gutmensch glaubt heute, dass er das kann.
Falscher Vergleich. Physikalische Kräfte heben sich meistens auf. Aber in Moral und Politik geht es darum, das anscheinend, wahrscheinlich bessere zu wählen. Durch möglichst alle Beteiligten und Betroffenen, wiewohl mit verschiedener Autorität. Aber das Merkmal von Diktaturen von Moskau bis Pjöngjang ist, dass nur eine, die höchste Autorität, alles wichtige entscheidet.
Interessant dass Sie glauben, Nordpol und Südpol höben sich auf.
Lieber Roger Köppel,
Danke für dieses wunderbare Essay!
Herzliche Grüße
Isabel und Achim aus Ottenbach in Baden -Württemberg ,
Partnergemeinde von Ottenbach in der Schweiz
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Ich muss es einfach tun: Ihnen Herr Köppel schreiben, um zu danken für diese weisen Betrachtung sowie für ihr Sein und wichtiges Wirken mit ihrer Weltwoche. Einfach brillant!!!
Moment mal. Hegel? War das nicht der Typ, der geschrieben hat: "Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist", der also den Etatismus in seinen 'Grundlinien der Philosophie des Rechts' transzendental verklärt hat?
Ich zitiere Sie , Herr Köppel: „Wenn die Medien den Regierungen nachschreiben, statt Widerstand zu leisten, ist etwas faul im Staat.“ Wie recht! Sagen Sie bitte den Regierungen in Moskau, Peking, Teheran, Ankara etc, dass es in ihren Staaten so faul ist, dass es zum Himmel stinkt, und das laut, deutlich und unmissverständlich! Das hat nichts mit den jeweiligen Kulturen zu tun, welche wir wertschätzen. Staatsterror verdient aber kein Verständnis!