Russlands Präsident Wladimir Putin hat in seiner Rede von vergangener Woche zu den Referenden in der Ostukraine (vgl. zur Story) einmal mehr an den Philosophen erinnert, der ihm als Orientierung und Inspiration dient: Am Schluss zitierte er die «Worte des wahren Patrioten» Iwan Iljin: «Wenn ich Russland als mein Mutterland betrachte, bedeutet das, dass ich wie ein Russe liebe, wie ein Russe sinne und denke, wie ein Russe singe und spreche; dass ich an die geistige Kraft des russischen Volkes glaube. Sein Geist ist mein Geist, sein Schicksal ist mein Schicksal, sein Leid ist mein Leid, und sein Wohlstand ist meine Freude.»

Andere Szene: Am 29. August 2022, in den grossen Abendnachrichten des ersten russischen Fernsehsenders, leitet die Moderatorin ein Thema ein, indem sie den Philosophen zitiert. «‹Alle versöhnen, jedem die Möglichkeit geben, auf seine Weise zu beten, auf seine Weise zu arbeiten›: Dieses berühmte Zitat des russischen Philosophen Iwan Iljin hallte heute bei einem Treffen im Kreml wider.» Es war der Leiter der Föderalen Agentur für Nationalitätsangelegenheiten, Igor Barinow, der das Zitat bei seinem persönlichen Gespräch mit Präsident Wladimir Putin verwendete. Er nutzte die Gelegenheit, um eine Anspielung auf den vom Kreml geführten Krieg in der Ukraine einfliessen zu lassen: «Sie [der Westen] sprechen von der ‹Entkolonialisierung› Russlands. Sie haben bereits gezählt, in wie viele Stücke sie uns zerlegen werden. Aber», fügte er hinzu, «sie kennen die Geschichte der Russischen Föderation schlecht: Wir waren nie eine Kolonialmacht, wir haben uns nach völlig anderen Prinzipien gebildet.» Er gab voll und ganz das Denken Iljins wieder.

Dieser Iwan Iljin, in der Sowjetunion unbekannt – weil mit einem Publikationsverbot belegt – und Anfang der 2000er Jahre in Russland noch hinter vorgehaltener Hand erwähnt, wird nun im Fernsehen als moralische Autorität zitiert. Es stimmt, dass Wladimir Putin ein ganz besonderes und schon lange bestehendes Interesse an ihm hat. Iwan Iljin ist das älteste und auch konstanteste philosophische Vorbild des russischen Präsidenten. Alle hohen Beamten und Minister zitieren ihn nun, wie Igor Barinow, um dem Staatsführer zu gefallen.

Dieser war fast ein wenig verlegen, als er auf dem Valdai-Forum, bei dem internationale Russlandexperten am 21. Oktober 2021 in Sotschi zusammenkamen, nach seinen intellektuellen Inspirationsquellen gefragt wurde und wiederholte, dass er Iljin sehr zugetan sei: «Wissen Sie, ich möchte nicht sagen, dass ich nur Iwan Iljin habe, aber ja, ich lese ihn bis heute» – und er wies darauf hin, dass er sein Buch immer auf einem Tablet griffbereit halte. Es handelt sich um eine Sammlung politischer Artikel des Philosophen, die zur Bibel der russischen Regierungselite geworden ist: «Unsere Aufgaben». Wie lässt sich diese Treue des Präsidenten zum Denker erklären?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst die Prägungen seines Lebens und seines Werks in Erinnerung rufen. Iwan Alexandrowitsch Iljin wird 1883 in Moskau unter der Herrschaft von Alexander III. geboren. Sein Vater, ein Aristokrat, hoher Beamter und Patenkind des Zaren, stammt aus Moskau, seine Mutter ist deutscher Abstammung. Nach seinem Sekundarschulabschluss tritt Iwan in die juristische Fakultät der Moskauer Universität ein, begeistert sich aber schon damals für die Philosophie. Er macht sich mit Platon, Rousseau, Kant und Hegel vertraut. Gewisse Augenzeugen berichten, dass er sich kurzzeitig, als der Aufstand von 1905 niedergeschlagen wurde, der revolutionären Sache anschloss und sogar Bomben in seinem Büro versteckte. Dieses Interesse, das ein Grossteil der intellektuellen Jugend Russlands teilte, sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein.

«Philosophenschiff» nach Deutschland

Putin preist den «russischen Soldaten», der «die Einheit des russischen Volkes repräsentiert».

Nach Abschluss seines Studiums engagiert er sich in der Lehre, insbesondere der Rechtsphilosophie. Anfang der 1910er Jahre verbringt er mit seiner Frau zwei Jahre in Deutschland, Italien und Frankreich, wo er mehrere Universitäten besucht. Er diskutiert mit Edmund Husserl, dem Vater der Phänomenologie. Iljin beginnt Artikel und Aufsätze zu veröffentlichen, vor allem über die deutsche Philosophie. Mehr und mehr wendet er sich dem Werk von Hegel zu, dem Theoretiker des Sinns der Geschichte und der Dialektik.

Doch die Zeiten werden unruhig: Russland zieht gegen Deutschland in den Krieg, und dann kommt es zu den Revolutionen im Februar und Oktober 1917. Iljin, der zunächst patriotische Artikel publiziert hat, stellt sich nun entschlossen und öffentlich auf die Seite der «Weissen» gegen die «Roten». Er wird 1918 dreimal von den Sicherheitsorganen des neuen Regimes angehalten, zweimal vor Gericht gestellt und schliesslich freigelassen. Er denkt nicht daran auszuwandern und verteidigt im selben Jahr seine Dissertation über «Die Philosophie Hegels als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen» – weit entfernt von dem materialistischen Hegel, wie er vom Marxismus-Leninismus verteidigt wurde.

Trotz weiterer Verhaftungen führt er die Lehrtätigkeit an der Moskauer Universität und an verschiedenen Instituten fort. Aber auch wenn er sich beharrlich weigert, das Land zu verlassen, wird er doch von den bolschewistischen Machthabern ausgewiesen. Im August 1922 wird Iljin auf Befehl Lenins verhaftet und auf das «Philosophenschiff» gebracht, das die führenden Persönlichkeiten der antibolschewistischen Intelligenz nach Deutschland bringt. Unter ihnen sind die Philosophen Nikolai Berdjajew, Sergei Bulgakow, Lew Karsawin und Simon Frank. Für Iljin ist dies das Exil fernab des geliebten Landes, in das zurückzukehren er sein ganzes Leben lang träumen wird.

Iwan Iljin und seine Frau lassen sich in Berlin nieder. Der Philosoph tritt in Kontakt mit der Gruppe um den russischen General Pjotr Wrangel, der versucht, die besiegte und über ganz Europa verstreute Weisse Armee zu organisieren. Iljin berät ihn und wird zu einem der führenden Ideologen der antibolschewistischen Bewegung. Er unterrichtet auch Philosophie an privaten Instituten. Seine Werke veröffentlicht er in einem Emigrantenmilieu, das sehr aktiv ist. Doch nach Hitlers Machtübernahme fordert das Propagandaministerium die weissen russischen Intellektuellen, auch Iljin, auf, sich an antisemitischen Kampagnen zu beteiligen und das neue Regime zu unterstützen. Der Philosoph weigert sich. 1938 verbietet die Gestapo seine Veröffentlichungen und Iljin jegliche Äusserungen.

Die Iljins fliehen aus Deutschland und lassen sich in Zollikon nieder, einem Ort nahe Zürich – in der Stadt, in die Lenin geflüchtet war, bevor er 1917 nach Russland zurückkehrte, um die Macht in seinem Land zu übernehmen. Iwan Iljins perfekte Kenntnisse der deutschen Sprache helfen ihm, im Alter von 55 Jahren noch einmal neu anzufangen. Aber ohne Geld und von den Schweizer Behörden mit einem Verbot für politische Aktivitäten belegt, ist er vollständig auf finanzielle Hilfe seiner Freunde angewiesen. Zu diesen gehört auch der Komponist Sergei Rachmaninow, der ihm unter die Arme greift.

In der Schweiz schreibt Iljin viel und veröffentlicht seine Artikel nach dem Krieg in den Zeitungen der Russischen All-Militärischen Union (ROWS), der in mehreren europäischen Ländern aktiv ist – diese Texte bilden später die Sammlung «Unsere Aufgaben», Wladimir Putins Hausbuch. Er hält auch Vorträge in protestantischen Gemeinden in deutscher Sprache. Sein rednerisches Talent berührt das Publikum. Eine seiner Zuhörerinnen, eine Deutsche mit österreichischen Wurzeln, sichert ihm die Miete für die Zollikerstrasse 33 und ein monatliches Einkommen von 500 Franken, damit er mehrere seiner Werke auf Deutsch veröffentlichen kann. 1952 vollendet er die «Axiome der religiösen Erfahrung», sein letztes philosophisches Werk. Er stirbt am 21. Dezember 1954. Seine Anhänger errichten ihm auf dem Friedhof in Zollikon ein Grabdenkmal.

Iljin beklagt den antireligiösen Charakter der Ideologien von Mussolini und Hitler.

Waffengewalt «unerlässlich»

Iljin ist als scharfer Antikommunist in der UdSSR, der Sowjetunion, nicht publizierbar. Unter den Philosophen der russischen Einwanderer in Westeuropa ist er umstritten. Wenn er auch als ausgezeichneter Kenner der deutschen Philosophie, insbesondere Hegels, anerkannt ist und seine idealistische und religiöse Inspiration ihn in die Nähe von etlichen in Frankreich oder Deutschland lebenden russischen spiritualistischen Denkern bringt, so stösst seine radikale politische Linie doch einigen sauer auf.

Im Jahr 1925 veröffentlicht Iljin einen Aufsatz mit dem Titel «Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse». Gegen die von Leo Tolstoi propagierte Gewaltlosigkeit versucht Iljin zu beweisen, dass man nicht gegen die christliche Ethik verstosse – die er befürwortet –, wenn man das Böse mit dem Schwert bekämpfe. Wenn man alle friedlichen Mittel gegen eine Aggression ausgeschöpft habe, ist es seiner Meinung nach unerlässlich, Waffen einzusetzen. Gemäss Iljin liegt in dieser Handlung sogar eine historische Notwendigkeit, die sehr hegelianisch sei. So ist er der Ansicht, dass «die gesamte Geschichte der Menschheit darauf hinausläuft, dass zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gemeinschaften die Besten unter den Schlägen der Schlechtesten gestorben sind. Und das geht so lange weiter, bis die Besten sich dazu entschliessen, den Schlechtesten einen geplanten und organisierten Widerstand entgegenzusetzen.»

Was die Ethik betrifft, so weigert sich der orthodoxe Iljin, nach einem erhaltenen Schlag die andere Wange hinzuhalten. Seine militaristische Einstellung, seine Unterstützung für die weissen Russen, die davon träumen, das kommunistische Regime zu stürzen, und vor allem seine metaphysische Rechtfertigung von Gewalt sind nicht nach dem Geschmack des grossen russischen Freiheitsphilosophen Nikolai Berdjajew, der ebenfalls im europäischen Exil lebt. In «Le cauchemar du bien mauvais», das einige Monate nach dem Erscheinen von Iljins Buch veröffentlicht wird, sieht Berdjajew in dieser Apologie der Gewalt den Keim des Autoritarismus, ja sogar des totalitären Denkens: «Iwan Iljin wurde mit dem Gift des Bolschewismus infiziert», schreibt er. «Im Grunde können die Bolschewiken Iwan Iljins Buch durchaus akzeptieren. Sie sehen sich als Träger des absolut Guten und stellen sich im Namen dieses Guten mit Gewalt gegen diejenigen, die sich dem Bösen hingeben.» In dieser Kritik wird vielleicht verständlich, warum Wladimir Putin, der ein Kind der UdSSR ist und für den der imperiale Sowjetismus ein unbestreitbarer Massstab bleibt, einen weissen Russen in sein persönliches Pantheon aufnehmen konnte. Iljin und Putin teilen die gleiche, gerne auch männliche Moral: Im Angesicht des Bösen muss man sich verteidigen, koste es, was es wolle.

Bankrott des Faschismus

Ein weiterer Streitpunkt unter seinen Philosophenkollegen sind Iljins ultrareaktionäre politische Optionen, die ihn manchmal in die Nähe der europäischen extremen Rechten rücken. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, veröffentlicht Iljin, damals in Deutschland, einen Artikel über «den neuen nationalsozialistischen Geist». Am Ende seiner Analyse findet er einige positive Aspekte am Hitlerismus: «Patriotismus, der Glaube an die Identität des deutschen Volkes und die Kraft des germanischen Genius, das Gefühl der Ehre, die Bereitschaft zur Selbstaufopferung, Disziplin, soziale Gerechtigkeit, klassenübergreifende, brüderliche und nationale Einheit. Dieser Geist begründet die Substanz der gesamten Bewegung. Er brennt im Herzen eines jeden aufrichtigen Nazis, spannt seine Muskeln an, hallt in seinen Worten wider und leuchtet in seinen Augen. Man muss nur diese gläubigen, geradezu gläubigen Gesichter sehen. Man muss nur diese Disziplin sehen, um die Bedeutung dessen, was geschieht, zu verstehen und sich zu fragen: Gibt es auf der Erde ein Volk, das sich weigern würde, für sich selbst eine Bewegung dieser Dimension und dieses Geistes zu schaffen? Mit einem Wort, dieser Geist verbindet den deutschen Nationalsozialismus mit dem italienischen Faschismus. Und nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem Geist der weissen russischen Bewegung.» Als Kontrast gegen die im Untergang befindlichen liberalen Demokratien, gegen den bürgerlichen Individualismus und die Dominanz des Rechts lobt Iljin das, was er als die gleichzeitig religiöse, moralische und politische Begeisterung des Nationalsozialismus ansieht.

Die Iljins lassen sich in einem Ort nahe Zürich nieder – in der Stadt, in die Lenin geflüchtet war.

Es ist jedoch bekannt, dass der Philosoph sich geweigert hat, seine antibolschewistische Doktrin mit dem militanten Nationalsozialismus zu verschmelzen. Nach dem Krieg zählt er in einem Artikel «Über Faschismus» sogar die «Fehler» des Nationalsozialismus auf. Er beklagt den antireligiösen Charakter der Ideologien von Mussolini und Hitler. Er kritisiert die Schaffung eines totalitären Staates, dem er selber eine autoritäre Herrschaft vorzieht. Er geisselt die Einheitspartei und den übertriebenen Nationalismus. Im Gegensatz dazu begrüsst er die Regimes von Franco in Spanien und von Salazar in Portugal, die «versuchen, diese Fehler zu vermeiden». Der Bankrott des Faschismus und des Nationalsozialismus sollte schliesslich von den «russischen Patrioten» gründlich analysiert werden, von jenen, die den Bolschewismus noch stürzen wollen. Kurzum: Für einen Grossteil der russischen Intellektuellen seiner Zeit verliert sich Iljin, zumindest in seinen ideologischen Beiträgen, in seinem politischen Revanchismus und seinen militaristischen Träumereien.

Es ist jedoch dieser politische Iljin, der im putinschen Russland einen durchschlagenden Erfolg haben wird. Eine der ersten Persönlichkeiten, die ihn in seinem Heimatland bekannt machten, ist der berühmte russische Filmemacher und Schauspieler Nikita Michalkow, der Urheber von «Schwarze Augen» oder «Die Sonne, die uns täuscht». In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, als kaum noch jemand an den Marxismus-Leninismus glaubte und die Sowjetunion zusammenbrach, wurde Michalkow zum Sprachrohr des weissen, monarchistischen, antirevolutionären und orthodoxen Russland.

Wahrscheinlich hat er die Werke von Iwan Iljin entdeckt, als er in den Regalen der Buchhändler der russischen Emigration im Westen stöberte. Im Jahr 2011 widmet er dem Mann, den er in übertriebener Weise als «berühmtesten russischen Philosophen» bezeichnete, eine Fernsehdokumentation. Darin betont er seine Kritik am politischen Liberalismus, an den «formellen Demokraten», die für die Revolutionen verantwortlich und nicht in der Lage seien, die zutiefst spirituelle Natur Russlands und dessen ursprünglichen Weg zu verstehen, und fordert eine zentralisierte Macht, die von oben nach unten wirkt.

Ist es Nikita Michalkow, der Wladimir Putin «Unsere Aufgaben» von Iljin in die Hand gespielt hat, seien es die beiden 1954 erschienenen Originalbände oder die 1993 in Russland veröffentlichte Version? Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber vieles spricht dafür. Der russische Präsident, der im Jahr 2000 an die Spitze des Landes kam, versucht nämlich, den Russen eine Ersatzideologie für den Kommunismus anzubieten. Und er verkehrt ein wenig mit dem Filmemacher.

Geist der Befreiung

Wie dem auch sei: Es ist so, dass Wladimir Putin Iljin bei wichtigen Reden zitiert. Am 25. April 2005 zitiert Putin Iljin bei seiner feierlichen Ansprache an die Föderationsversammlung, das heisst an die Vertreter der beiden Kammern (Duma und Föderationsrat), die einmal im Jahr zusammenkommen, um sich die Bilanz und das Programm des Präsidenten anzuhören. In einer Passage seiner Rede, die dem Aufbau eines effizienten politischen und rechtlichen Systems als Garanten für die Entwicklung der Demokratie im Land gewidmet ist, ruft er die Verwaltung und die Repräsentanten dazu auf, ihre Macht nicht zu missbrauchen und alles zu unternehmen für «die Konsolidierung der Institutionen für eine echte Demokratie». An dieser Stelle seiner Rede zitiert der Präsident Iljin: «‹Die Macht des Staates›, schrieb der grosse russische Philosoph Iwan Iljin, ‹hat ihre Grenzen›, denn die Macht ‹kommt von aussen auf den Menschen zu›.» Mit einem langen Zitat fortfahrend, ruft Putin, argumentierend mit Iljin, dazu auf, «das wissenschaftliche, religiöse und künstlerische Schaffen» nicht zu regulieren und sich nicht in die Sitten und Gebräuche einzumischen.

«Wir waren nie eine Kolonialmacht, wir haben uns nach völlig anderen Prinzipien gebildet.»

Diese erste grosse Zitierung klingt wie eine Modifizierung zur Diktatur des Gesetzes und zum vertikalen Durchgriff der Macht; Begriffe, die Putin seit seinem Amtsantritt als Präsident pusht. Es wird daran erinnert, dass die Macht vom Volk ausgehe, dass er dies respektieren müsse und sich nicht Neigungen zur Zwangsausübung hingeben dürfe. Iljins Idee lässt sich jedoch besser verstehen, wenn man das gesamte Kapitel des ersten Bandes von «Unsere Aufgaben» liest, aus dem dieser Auszug stammt. Es trägt den Titel «Die Hauptaufgabe des zukünftigen Russland» und ist ein programmatischer Text darüber, was nach dem Fall des Kommunismus in dem Land geschehen wird und was getan werden muss, damit es dem Chaos entgeht.

«Wir wissen nicht, wann oder wie die kommunistische Revolution in Russland beendet wird», räumt Iljin ein. «Aber wir wissen, was die Hauptaufgabe ist zum Wohl und zum nationalen Wiederaufbau Russlands: der Aufstieg unter die Besten an der Spitze – Männer, die sich Russland verschrieben haben, die ihre Nation fühlen, ihren Staat denken, die willensstark und kreativ sind und dem Volk nicht Rache und Untergang, sondern den Geist der Befreiung, der Gerechtigkeit und der Vereinigung aller Klassen anbieten. Wenn die Wahl dieser neuen russischen Männer erfolgreich ist und schnell umgesetzt wird, dann wird Russland innerhalb weniger Jahre wieder aufstehen und neu geboren werden. Wenn nicht, wird Russland aus dem revolutionären Chaos in eine lange Periode der postrevolutionären Demoralisierung, des Niedergangs und der Abhängigkeit von aussen fallen.»

Man kann sich vorstellen, wie verblüfft Wladimir Putin gewesen sein muss, als er diese Zeilen las. Mehr als ein Programm ist das: ein Porträt, das es zu perfektionieren gilt. Etwas später ruft Iljin dazu auf, eine neue «russische Idee» zu schaffen. Diese könne nicht «die Idee des ‹Volkes›, der ‹Demokratie›, des ‹Sozialismus›, des ‹Imperialismus›, des ‹Totalitarismus›» sein, denn «es bedarf einer neuen Idee, die von ihren Quellen her religiös und von ihrer geistigen Bedeutung her national ist. Nur eine solche Idee kann das Russland von morgen wiederbeleben und neu begründen.» Indem er einen relativ harmlosen Satz aus diesem Text zitiert, drängt Putin alle russischen Führer und Beamten dazu, dieses hintergründige Porträt seiner Person und seines Handelns zu lesen. Im Jahr 2005 handelt es sich noch nicht um eine strukturierte Philosophie, sondern um eine prophetische Inspiration.

Erstes Grab in Zollikon

Ein Jahr später zitiert der Präsident den Philosophen erneut. Er preist den «russischen Soldaten», der «die Einheit des gesamten russischen Volkes, den Willen, die Stärke und die Ehre des russischen Staates repräsentiert». Damit wird klar, welchen Zweck Iljin verfolgt. Er dient der intellektuellen Legitimierung der Akklamationsdemokratie, die Putin einführen will, seiner Alternative zum Kommunismus, aber auch zu den westlichen Demokratien, die er immer offener verachtet. In einem anderen Kapitel von «Unsere Aufgaben» («Der nationale Führer und die Parteiführer») spricht Iljin von der Notwendigkeit eines «Führers», der «weiss, was zu tun ist». Er kommt zu dem Schluss: «Der Führer dient, statt Karriere zu machen; kämpft, statt sich zu profilieren; schlägt den Feind, statt leere Worte zu sprechen; führt, statt sich an Fremde zu verkaufen.» Putins Programm ist geschrieben: Der russische Staat muss unter der Führung eines unbestrittenen Führers aufgebaut werden, der den Volkswillen verkörpert und es wagt, sich gegen die vermeintliche Feindschaft des Westens zu stellen.

Derweil werden irgendwann die sterblichen Überreste von Iwan Iljin, die in Zollikon ruhen, nach Russland übergeführt. Der ungewöhnliche Konvoi führt durch Paris, wo im September 2005 in der orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale ein feierlicher Gottesdienst abgehalten wird. Nikita Michalkow ist natürlich anwesend. Auch ein junger Priester, Tichon Schewkunow, der noch nicht als «Putins Beichtvater» bezeichnet wird, aber zu einer wichtigen Figur der putinschen Ideologie geworden ist, ist anwesend. Einige Tage später wurden Iljins sterbliche Überreste auf dem Friedhof des Donskoi-Klosters in Moskau beigesetzt. Dem Kreml nahestehende Unternehmer – insbesondere Viktor Vekselberg – finanzieren die Operation, sicherlich auf ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten; oder aber um ihm zu gefallen. Im Jahr 2009 wird man Wladimir Putin dabei beobachten, wie er das Grab des Philosophen mit Blumen schmückt.

Bei seiner Ansprache an die Föderationsversammlung im Dezember 2014 zitiert der Präsident erneut Iljin – Putin absolviert nach der Medwedew-Episode seine dritte Amtszeit. Doch seit der ersten Nennung des Philosophen im Jahr 2005 hat sich alles geändert. Die Konfrontation mit dem Westen ist Realität geworden, dies mit der Annexion der Krim im März 2014 und dem von Moskau unterstützten Separatistenkrieg im Donbass. Während Russland westlichen Sanktionen ausgesetzt ist, hämmert der Präsident darauf ein, dass die Entwicklung des Landes «nur noch von uns selbst» abhängt. Er beendet seine Rede mit einem Zitat seines Lieblingsphilosophen: «Wer Russland liebt, muss ihm Freiheit wünschen, vor allem Freiheit für Russland selbst, für seine internationale Unabhängigkeit und Autonomie, Freiheit für Russland als Einheit der Russen und aller anderen nationalen Kulturen. Und schliesslich die Freiheit für die Russen, die Freiheit für uns alle, die Freiheit des Glaubens, der Wahrheitssuche, des Schaffens, der Arbeit und des Eigentums.»

Dieses verkürzte Zitat stammt aus einem Kapitel von «Unsere Aufgaben» mit dem Titel «Freiheit ist für Russland unerlässlich». Doch hinter dem Anschein, das sei ja generell akzeptiert, verbirgt sich ein ganz eigenes Verständnis von Freiheit. Bei Iljin geht die Freiheit nicht vom Individuum aus. Und sie ist auch nicht universell. Iljin hierarchisiert und knüpft die Freiheit an Bedingungen. Sie entsteht seiner Meinung nach aus einer Artikulation von Staat und Individuum. Sie muss gelenkt werden. Wladimir Putin zitiert den Rest des Textes nicht, in dem Iljin weiter schreibt, dass dann, wenn die Russen aufhören, von den westlichen Freiheiten zu träumen, «Russland die Freiheit wiederfinden, sie festigen und sein Volk zu freier Loyalität erziehen wird». Diese sehr dialektische Formel lässt einen träumen.

Programm für Putin

Doch Iljin doziert nicht nur über die politischen Eigenheiten Russlands. Er betont oft die Gefahr, welche die aggressiven Ziele des Westens für sein Land darstellt. Einer seiner Lieblingstexte trägt den Titel «Was verspricht der Welt die Zerstückelung Russlands?». Darin vermischen sich der Hegelianismus, der Militarismus und der imperiale Nationalismus des Philosophen. Wenn Putin darüber nachdachte, ging er also weder blind noch unvorbereitet in seine ukrainischen Abenteuer, das von 2014 und das von 2022. Aus einer typisch hegelianischen Perspektive argumentiert Iljin darin, dass Russland kein «künstlich arrangierter Mechanismus» sei, sondern ein «historisch geformter und kulturell begründeter Organismus». Daher sei es unmöglich, es zu zerstückeln, ohne ihm Schmerzen zuzufügen oder gar seinen Tod herbeizuführen.

In einem ebenfalls sehr hegelianisch geprägten Kampf, den Iljin entwirft, werden die «imperialistischen Nachbarn» versuchen, sich mehr oder weniger offen Gebiete wie die Ukraine, die baltischen Staaten, den Kaukasus, Zentralasien und so weiter anzueignen, die unter der natürlichen Kontrolle Russlands stehen. «Man wird Russland in gigantische ‹Balkanstaaten› verwandeln, in eine ewige Quelle von Kriegen.» Warum sollte die Welt versuchen, Russland anzugreifen? Weil «die westlichen Völker die russische Originalität nicht verstehen und nicht ertragen können».

Ihr Ziel ist es daher, «Russland zu zerstückeln, um es unter westliche Kontrolle zu bringen, es zu besiegen und schliesslich auszulöschen». Nach Iljin wird dies durch die scheinheilige Förderung von Werten wie «Freiheit» erreicht. Seiner Meinung nach sind einige «Stämme» nicht dazu geeignet, Staaten zu werden, und müssen unter der Kontrolle von Nachbarstaaten bleiben. Er nennt Flamen, Wallonen, Kroaten, Slowenen, Slowaken, Basken, Katalanen und so weiter.

Er denkt aber auch an die Völker, die einst das Russische Reich bildeten, insbesondere an die Ukrainer. Auch hier wurde das putinsche Programm grösstenteils von Iljin verfasst. Ob er nun eine neue Art von Regime beschreibt, das jahrelang von einem Führer geleitet wird, die Notwendigkeit eines von westlichem Einfluss befreiten Russlands oder die unerlässliche Kontrolle über die Stufen des Imperiums – der Präsident hat bei Iljin sicherlich nicht nur Zitate für seine Reden, sondern auch eine ideologische Matrix gefunden. Als treuer Leser plant der russische Präsident nun, die letzte Etappe der «Befreiung» Russlands und seines Sieges über den dekadenten Westen zu vollenden.

Michel Eltchaninoff ist Doktor der Philosophie, Chefredaktor der französischen Monatszeitschrift Philosophie Magazine und Autor mehrerer Bücher über Russland, darunter «Dans la tête de Vladimir Poutine» (2015/2022) – auf Deutsch: «In Putins Kopf» – sowie«Lenin a marché sur la lune» (2022).