Wer entscheidet am Ende in der Schweiz über die Gesetze? Sind es nach wie vor die verfassungsmässigen Verfassungsgeber, nämlich Volk und Stände? Oder trifft die Diagnose der SVP zu, wonach zusehends Richter, vor ­allem Richter europäischer Instanzen, in der Schweiz bestimmen? Der Zürcher Rechtsprofessor und SVP-Ständeratskandidat Hans-­Ueli Vogt ist entschieden dieser Meinung. Er ist der führende Kopf hinter der Selbstbestimmungsinitiative seiner Partei, die den klaren Vorrang des «Schweizer Rechts» vor «fremden Richtern» fordert. Ihm widerspricht heftig sein Zürcher Professorenkollege Daniel Jositsch, der im Herbst für die SP als Ständerat kandidiert. SVP-Kantonsrat Vogt kritisiert die aus seiner Sicht heimliche Aushebelung der Volksrechte durch demokratisch nicht legitimierte Gerichte. SP-Nationalrat Jositsch hingegen bewertet die Initiative als gefährlichen Angriff auf bürgerliche Freiheitsrechte. Das erstmalige Streitgespräch fand auf der Redaktion der Weltwoche statt.

Die Selbstbestimmungsinitiative der SVP, «Schweizer Recht statt fremde Richter», rollt an. Herr Vogt, am liebsten in einem Satz: Wozu braucht es diese Vorlage?

Vogt: Weil es in den letzten Jahren häufig vorkam, dass Entscheidungen von Volk und Ständen nicht umgesetzt wurden, obwohl sie in der Verfassung stehen. Das Argument war jeweils, übergeordnetes Recht stehe dem entgegen. Darum müssen wir jetzt klarstellen: Unsere Verfassung steht über diesem vermeintlich übergeordneten Recht. In der Schweiz bestimmen Volk und Stände.

Herr Jositsch, warum sind Sie gegen eine Initiative, die doch eigentlich nur den selbstverständlichen Vorrang der Bundesverfassung klären und festschreiben will?

Jositsch: Diese Initiative ist sehr gefährlich. Sie nimmt dem Bürger die Möglichkeit, seine Grundrechte durchzusetzen. In ­einem Rechtsstaat ist es zentral, dass die Menschenrechte gewährleistet sind, wie die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit. Eine Gutheissung der In­itiative würde diesen Schutz abbauen. ­Dazu kommt noch, dass die Schweiz internationale Verträge, die sie freiwillig und ohne Zwang von aussen eingeht, unter Umständen nicht mehr einhalten könnte und damit zu einem unzuverlässigen ­Partner würde.

Sägen Sie an den Menschenrechten?

Vogt: Nein. Der Schutz der Menschenrechte in der Schweiz hängt nicht von einem ausländischen Gericht ab. Die Menschen­rechte sind in unserer Verfassung bereits geschützt. Wenn jemand findet, das reiche nicht, dann soll er sich für eine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz einsetzen. Allerdings hat das Parlament wiederholt entschieden, dass es das nicht will, und beim Volk hätte eine Verfassungs­gerichtsbarkeit kaum Chancen. Dieser Entscheid wird beiseitegeschoben, indem der Gerichtshof in Strassburg als schweizerisches Verfassungsgericht amtet, ohne dass es jemals eine Volksabstimmung darüber gab. Das Gericht in Strassburg ist eigentlich ein Super-Verfassungsgericht, weil es am Volk vorbei sogar über unsere Verfassung gestellt wird.

Jositsch: Sie liegen falsch. Wie Sie richtig ­sagen, haben wir in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit und sind somit nicht in der Lage, die Bürgerrechte umfassend zu schützen. Das wissen viele Leute nicht. Unser Parlament, also ausgerechnet die von der SVP mit Häme beworfene Classe politique, bestehend aus 246 Parlamen­tariern, kann entscheiden, was sie will. ­Niemand kann überprüfen, ob das mit der Verfassung im Einklang steht. Wir wollten das vor einem oder zwei Jahren ändern, aber unter anderem die SVP war dagegen.

Aber es stimmt doch, dass die Menschenrechte bereits in der Bundesverfassung geschützt sind.

Jositsch: Es geht nicht in erster Linie darum, welche Rechte genau in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sind. Es sind tatsächlich weitgehend die gleichen wie in der Bundesverfassung. Zuverlässig geschützt sind sie aber nur durch den überstaatlichen Mechanismus. Da ist die EMRK zentral. Ich erinnere daran, dass sie vor dem historischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde und zurückgeht auf die berühmte Rede von ­Winston Churchill 1946 an der Universität Zürich. Der Grundgedanke ist: Man will nicht mehr, dass die Menschen alleingelassen werden, dass eine Diktatur schrankenlos über sie entscheidet. Stattdessen soll ein Schutz bestehen, indem sich der Einzelne notfalls gegen den eigenen Staat wehren kann. Ich setze mich für den Erhalt dieses rechtsstaatlichen Rettungsrings ein.

Ist die Schweiz eine Diktatur? Die Geschichte zeigt, dass die Menschenrechte in unserer direkten Demokratie bisher sehr gut aufgehoben waren. Volk und Stände beweisen in Abstimmungen eine grosse demokratische Reife.

Jositsch: Mit dieser Haltung könnten Sie bei sich zu Hause den Feuerlöscher verkaufen mit dem Argument, es habe ja in den letzten zehn Jahren nicht gebrannt. Es ist beileibe nicht so, dass in der Schweiz noch nie gegen Menschenrechte verstossen worden wäre. Ich erinnere an die Verdingkinder und daran, dass das Frauenstimmrecht auf Druck der EMRK eingeführt wurde. Auch in der Schweiz kann man nicht sicher sein, dass nicht irgendwann wieder einmal etwas entschieden wird, was gegen die Menschenrechte verstösst. Daher müssen wir den Feuerlöscher behalten!

Vogt: Es ist momentan in Mode, die Menschenrechte hochzustilisieren mit dem Ziel, eine kritische Diskussion zu verbieten. Die Menschenrechtsentwicklung muss man aber kritisch betrachten. Das moderne Menschenrechtsprogramm ist ein Programm der politischen Linken. Statt mit Freiheitsrechten die Bürger vor dem Staat zu schützen, werden mit Menschenrechten Ansprüche an den Staat und damit an die Steuerzahler begründet: Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Familiennachzug, auf unentgeltlichen Hochschulunterricht und so weiter. Das muss man kritisieren, und das ist auch kein ­Angriff auf die Zivilisation. Dürfen kriminelle Ausländer ausgewiesen werden? Dürfen staatliche Medien verdeckt recherchieren, wie jüngst im «Kassensturz»-Fall? Das sind wichtige politische Fragen. Es ist falsch, dass bei solchen Fragen die Grenzen von Richtern gezogen werden. Und es ist doppelt falsch, dass sie von ausländischen Richtern gezogen werden. ­Diese Fragen sollen das Parlament und ­allenfalls das Volk entscheiden.

Sind Sie bereit, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen? Was wären die Folgen?

Vogt: Wenn das Gericht in Strassburg aus der EMRK Dinge herausliest, die unserer Verfassung widersprechen, wird eine Kündigung unvermeidbar. Die EMRK von 2015 ist eben nicht mehr die EMRK von 1974, die die Schweiz unterzeichnet hat. Es gibt aber ­ohnehin keinen Grund, zu befürchten, dass die Schweizer Stimmbevölkerung Grundrechte verletzt. Die Stimmbürger entscheiden massvoll, und sie nehmen auf Minderheiten Rücksicht. Sehen Sie doch, wie differenziert die Bevölkerung über Sach­fragen abstimmt: ja zur Abzockerinitiative, nein zu 1 : 12; ja zur Masseneinwanderungsinitiative, nein zu Ecopop. Das Schweizervolk ist viel ausgewogener und differenzierter als Experten, Rechtsprofessoren, Richter, Politiker und Parteien. Es gibt in der jüngeren Geschichte keinen Hinweis darauf, dass unsere Demokratie auf menschenrechtsfeindliche Pfade abdriften könnte.

Verdingkinder und Frauenstimmrecht?

Vogt: Es ist immer einfach, im Nachhinein die Verfehlungen der Alten zu tadeln. Spä­tere Generationen werden uns vielleicht dafür kritisieren, was wir heute im Bereich der Menschenrechte für richtig ansehen, indem wir etwa schwer straffällige Ausländer nicht mehr ausweisen oder eine schrankenlose Zuwanderung zulassen. Man darf nicht einfach mit heutigen Massstäben die Vergangenheit kritisieren.

Herr Jositsch, warum misstrauen Sie der menschenrechtlichen Reife und demokratischen Kompetenz des Schweizervolks?

Jositsch: Ich stehe voll hinter unserer direkten Demokratie! Aber zuerst: Ich bin schockiert, wenn Hans-Ueli Vogt sagt, die Menschenrechte seien relativ. Wie erklärt er das einem ehemaligen Verdingkind, dessen Grundrechte mit Füssen getreten wurden, das man aus seinem Umfeld weggenommen und irgendwohin verschachert hat? Die Menschenrechte gelten für mich absolut! Die sozialen Rechte, die Sie aufgezählt haben, stehen gar nicht in der EMRK. In dieser geht es um das Recht der persönlichen Freiheit. Dass man mich nicht einfach ein­sperren kann. Das Recht, dass ich meine Meinung frei äussern und meine Religion ausüben kann. Es ist doch paradox, dass ­ausgerechnet die SVP, die sonst immer für Volksrechte eintritt, dem Parlament mehr Macht geben will und dem einzelnen Bürger das Recht streitig macht, sich zu wehren. Es ist kein Zufall, dass Churchill den Grundstein für die EMRK in der Schweiz gelegt hat. Seine Rede war ein Plädoyer dafür, «let Europe arise» auf den Fundamenten des Schweizer Beispiels, wo der Bürger sich wehren kann. Das wollen Sie zerstören, und das ist schade.

Vogt: Ich danke Ihnen für den Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg. Wir waren damals noch nicht Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil es die ­damals noch gar nicht gab. Der Schutz der Grundrechte war gewährleistet, lange bevor 1950 die Konvention unterzeichnet wurde. Herr Jositsch hat recht, wenn er sagt, die ­sozialen Rechte stünden gar nicht in der ­EMRK. Aber es geht ja in der Initiative auch nicht nur um die EMRK, sondern um das Verhältnis der Verfassung zum Völkerrecht insgesamt. Auf der Ebene der Uno wird ein umfassender Sozialrechtsschutz voran­getrieben, ohne dass man sich dort dafür interessiert, wer das zahlt.

Nochmals, Herr Jositsch, warum sind Sie so misstrauisch gegenüber dem Volk? ­Warum sollen übergeordnete Gerichts­instanzen am Ende das Sagen haben? Um nur ein Beispiel zu nehmen: Kürzlich wurde in der Romandie ein Verein gerichtlich aufgelöst, dessen einziger Zweck die illegale Hausbesetzung war. Euro­päische Richter setzten dieses Schweizer Urteil im Namen übergeordneten Rechts ausser Kraft. Das ist doch absurd.

Jositsch: Wir entscheiden immer noch selber, welches Völkerrecht wir einhalten und welches nicht, wir werden von niemandem gezwungen. Der von Ihnen angesprochene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist gar nicht in der Lage, ein schweizerisches Urteil aufzuheben. Er stellt lediglich fest, dass ein Gesetz gegen die EMRK verstösst. Es ist dann an uns, das Gesetz aufzuheben. Es entscheidet kein fremder Richter über uns. Jedes Gericht auf der Welt fällt einmal einen Entscheid, den die einen gut und die anderen schlecht finden. Das liegt in der Natur der Sache.

Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Sie so misstrauisch gegenüber dem Volk als Hüter der Menschenrechte sind.

Jositsch: Wir haben in der Schweiz tatsächlich keine gröberen Menschenrechtsprobleme. Das ist aber nicht der Punkt. Im Rechtsstaat geht es um checks and balances. Wenn Sie auf dem Zürichsee ein Schiff besteigen, dann fragt Sie der Kapitän auch nicht: «Misstrauen Sie dem Schiff, dass Sie einen Rettungsring dabeihaben wollen?» Darum geht es doch gar nicht, sondern um die grundsätzliche Entscheidung: Wenn ein Schiff in See sticht, dann muss ein Rettungsring an Bord sein. Dasselbe gilt für die EMRK. Sie ist auch als Versicherung für die Zukunft gedacht. Herr Vogt redet Konflikte herbei, die es gar nicht gibt: Gegen die Schweiz gab es zwischen 1974 und 2013 insgesamt 5940 Beschwerden. Über 98 Prozent davon waren nicht erfolgreich. Von allen Beschwerden wurden nur 1,6 Prozent angenommen. Sie sehen also, dass das ganz selten passiert. Das Wichtige ist, dass sich Schweizer Bürger – nicht irgendjemand! – gegen den Staat wehren können.

Herr Vogt, übertreibt die SVP das Problem der fremden Richter?

Vogt: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann zwar kein Schweizer Urteil aufheben. Aber jeder Vertragsstaat ist verpflichtet, einem Urteil auf ­nationalstaatlicher Ebene Wirkung zu verschaffen. Zudem sind für die Schweiz alle Urteile des Gerichtshofs massgeblich, nicht nur die, die gegen die Schweiz er­gehen. Unser Bundesgericht und unsere Behörden halten sich an die gesamte Rechtsprechung des Gerichtshofs, und sie stellen diese ganze Rechtsprechung über unsere Verfassung. Es ist ziemlich belanglos, ob ein Urteil gegen die Schweiz oder einen anderen Staat ergangen ist.

Jositsch: Freiwillig! Das hat uns niemand aufgezwungen.

Vogt: Nicht wirklich freiwillig. Über dieses ausländische Verfassungsgericht konnten wir in der Schweiz nie abstimmen. Man hat es auf kaltem Weg eingeführt. Richtig wäre, dazu im Nachhinein eine Volksabstimmung durchzuführen. Tatsache ist weiter, dass das aus vielen Quellen sprudelnde internatio­nale Recht heute über die Bundesverfassung gestellt wird, und auch dies, ohne dass die Stimmbürger jemals darüber abstimmen konnten. Im Bundesgerichtsurteil 139 I 16 ff. betreffend Ausschaffungsinitiative halten die Lausanner Richter an die Adresse des Gesetzgebers fest, er müsse bei der Umsetzung der Initiative die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beachten. Zu sagen, die EMRK habe keinen Einfluss auf die Gesetzgebung, ist also unzutreffend. Auch im politischen Prozess, in der Tätigkeit der Verwaltung und in den Parlamentsdiskussionen, spielt die EMRK eine Rolle.

Völkerrecht bricht Landesrecht, internationale Gerichte stehen über dem Schweizer Souverän: Wollen Sie das, Herr Jositsch?

Jositsch: Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht ist tatsächlich nicht geklärt. Das spielt aber auch keine Rolle. Es gibt nämlich keine systematischen Kon­flikte zwischen der Schweizer Verfassung und dem Völkerrecht. Herr Vogt stört sich an einem einzigen Bundesgerichtsentscheid zu einer Ausschaffung! Diesen kann man ja diskutieren. Doch die für das Leben wesentlichen Fragen werden in Bundesgesetzen geregelt. Herr Vogt will, dass wir wegen eines einzigen Bundesgerichtsentscheids das ganze Menschenrechtssystem der EMRK und die vertragliche Verflechtung der Schweiz über den Haufen werfen. Da ist sein zentraler Fehler. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass gerade wir als Kleinstaat auf das Völkerrecht angewiesen sind. Die grossen Staaten können ihr Recht selbständig durchsetzen; wir aber sind auf das Rechtssystem angewiesen, um unsere Interessen zu schützen.

Vogt: Es geht nicht um den Einzelfall des Ausschaffungsurteils. Es geht darum, dass das Bundesgericht in diesem Urteil eine allgemeine Aussage über den Vorrang der ­EMRK gegenüber unserer Verfassung gemacht hat. Dieser Vorrang hatte und hat Auswirkungen auch auf die Umsetzung von anderen Verfassungsbestimmungen. Ich erinnere daran, dass eine Alpeninitiative, die Verwahrungsinitiative, die Masseneinwanderungsinitiative . . .

Jositsch: Hat die EMRK da irgendwas entschieden?

Vogt: Das Wort EMRK kommt in der Initia­tive gar nicht vor. Es gibt eine Reihe von Entscheiden des obersten Schweizer Souveräns, die nicht oder nur verzögert nach langem Hin und Her umgesetzt worden sind. Im politischen Prozess hält man ständig dagegen, die Initiativen könnten wegen angeblich übergeordneten Rechts nicht um­gesetzt werden. Es geht bei der Initiative also nicht nur um die Umsetzung von Ur­teilen aus Strassburg. Die Initiative ist viel wichtiger für den politischen Prozess. Es darf nicht sein, dass sich die Politik weigert, den Entscheid von fünf Millionen Stimmbürgern umzusetzen, weil es 47 Richter in Strassburg eventuell anders sehen.

Jositsch: Moment, die Initiative heisst «Schweizer Recht statt fremde Richter». ­Offenbar ist Herr Vogt jetzt der Meinung, es gehe gar nicht um internationale Richter, sondern um unser Parlament, das offenbar nicht gewillt ist, dies oder jenes umzusetzen.

Vogt: Unter Berufung auf fremde Richter und internationale Organisationen!

Jositsch: Da muss ich Ihnen einfach sagen: Die grösste Fraktion im Bundeshaus ist meines Wissens die SVP, die beispielsweise bei der Zweitwohnungsinitiative gewisse Mühe bekundet hat, den Text umzusetzen. Ich war bei allen Initiativen immer für eine wortwörtliche Umsetzung und habe mich etwa höchstpersönlich bei der Verwahrungsinitiative für eine korrekte Umsetzung eingesetzt. Früher oder später wurden alle ­Initiativen umgesetzt, von der Verjährungsinitiative über die Ausschaffungsinitiative bis zur Zweitwohnungsinitiative.

Vogt: Nach jahrelangem Hin und Her und nur mit Abstrichen! Die Stimmbürger gehen zu Recht davon aus, dass das, was sie beschlossen haben, möglichst schnell um­gesetzt wird, und zwar so, wie sie es beschlossen haben.

Jositsch: Wenn Sie dann im Parlament sind, werden Sie sehen, dass ein Milizparlament, das sich viermal im Jahr trifft, nicht in der Lage ist, alles von heute auf morgen umzusetzen. Als es darum ging, jahrelang die Mutterschaftsinitiative nicht umzusetzen, hat sich aus der SVP niemand sonderlich aufgeregt. Sie vertrauen offenbar dem Parlament nicht, Ihre Initiativen umzusetzen.

Vogt: Das ist leider so. Weil es sich immer mehr am internationalen Recht statt an unserer Verfassung orientiert. Und das ­übri- gens ganz allgemein, nicht nur wenn es um die Umsetzung von Volksinitiativen geht.Jositsch: Jetzt sind Wahlen im Herbst. Dann kann der Souverän entscheiden, dem Sie so vertrauen. Ich habe auch Vertrauen, dass er Politiker wählen wird, die Volksinitiativen umsetzen.

Herr Vogt, Sie sind das juristische Hirn hinter der SVP-Initiative. Wie wollen Sie die Leute von der Notwendigkeit einer Klärung dieser Frage überzeugen, wenn die Gegner von einer Scheinlösung für ein erfundenes Problem sprechen?

Vogt: Nehmen wir das Beispiel Ausschaffungsinitiative. Sie ist auch bald fünf Jahre nach ihrer Annahme noch immer nicht umgesetzt. Inzwischen haben über 150 000 Stimmbürger die Durchsetzungsinitiative unterschrieben, weil sie sich gesagt haben: «Bundesrat und Parlament machen etwas anderes, als wir beschlossen haben.» Sagen Sie diesen 150 000 Stimmbürgern, das sei ein erfundenes Problem! Dass das Parlament das Prinzip der Verhältnismässigkeit gegen die Initiative in Stellung gebracht hat, war ein juristischer Zaubertrick, denn nach allen Grundsätzen der Auslegung handelt es sich bei dieser Initiative um eine konkretisierte, spezifizierte Regelung der Verhältnismässigkeit. Das Volk hat in der Abstimmung entschieden, was es für verhältnismässig hält: Wer als Gast, also ohne aufenthaltsrechtlichen Status zu haben, straffällig wird, muss wieder gehen. Dass dagegen die Verhältnismässigkeit ins Feld geführt wird, zeigt, dass die politischen Gegner mit allen Mitteln die Entscheidungen des Souveräns bekämpfen.

Jositsch: Sie behaupten, was ich in Abrede stelle, dass das Parlament die Initiativen nicht umsetzt. Überprüfbar ist das aber nicht, weil in der Schweiz niemand die Verfassungsmässigkeit beurteilt. Wie man sieht, braucht es Möglichkeiten, mit denen der Bürger sich gegen Entscheide wehren kann, die er als Widerspruch zu den Grundrechten empfindet. Es kann ja nicht sein, dass man sich trotz direkter Demokratie und Rechtsstaat nicht gegen Entscheidungen der 246 Parlamentarier zur Wehr setzen kann. Die Ausschaffungsinitiative ist in der letzten Session umgesetzt worden.

Vogt: Man kann, wie Sie, der Ansicht sein, dass die Einhaltung der Verfassung in ­unserem System nicht genügend gewährleistet ist. Dann müsste man aber dafür sorgen, dass wir selbst in der Schweiz die Kontrolle verbessern. Es ist unredlich, aus- ländische Richter als Verfassungsrichter herbeizurufen, nur weil bei uns ein Ver­fas- sungsgericht nicht mehrheitsfähig ist. Ausländische Richter, die nicht von uns gewählt sind, die dem Volk keine Rechenschaft schuldig sind und unseren demokratischen Entscheidungen nicht Rechnung tragen.

Herr Vogt, gesetzt den Fall, Sie erleiden mit der Initiative Schiffbruch. Dann werden ­Ihre Gegner sagen, das Volk habe sich klar für einen Vorrang des internationalen Rechts entschieden. Heute ist die Lage verschwommen, dann wäre sie klar zugunsten der internationalen Richter entschieden. Droht die SVP zur Steigbügelhalterin der Internationalisten zu werden?

Vogt: Aus der blossen Angst heraus, zu verlieren, sollte man nicht darauf verzichten, das zu tun, was man für richtig hält. Es ist klar, dass der Schuss auch nach hinten losgehen kann und dass die Gegner der direkten ­Demokratie kein Argument und keine Ge­legenheit ungenutzt lassen werden, den umfassenden und undifferenzierten Vorrang des Völkerrechts voranzutreiben und mit seiner Hilfe unliebsame Entscheide des Souveräns zu umgehen. Ein Nein zur Selbstbestimmungsinitiative würde bestimmt als ein Argument genutzt werden. Leider Gottes.

Herr Jositsch, das Bundesgericht stellte in ­einem bemerkenswerten Urteil Ende 2012 fest, dass sich die Schweiz nicht einfach nur wie zuvor am zwingenden Völkerrecht, also am Folterverbot und am Verbot von Angriffskriegen, orientieren müsse, sondern neu ganz generell am Völkerrecht. Alt Bundesrat Blocher nannte diesen auch im Bundesgericht umstrittenen Entscheid einen «stillen Staatsstreich», der Volk und Stände ausheble.

Jositsch: Es war sicher ein umstrittenes Urteil, aber man muss den Menschenrechtsschutz ins Verhältnis dazu setzen. Man kann in ­jedem rechtlichen Streitfall unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt Urteile, die wir vielleicht schlecht finden. Deswegen haben wir aber das Bezirksgericht noch nicht ab­geschafft. Auch das Bundesgericht hat hier etwas entschieden, was man gut oder schlecht finden darf. Man muss aber sehen, was alles daran hängt. Es ist die Frage: Wie kann die Schweiz in der Welt auftreten, wie kann sie die Verbindlichkeit des Völkerrechts weiterhin einfordern, die sie seit 1815 als neutraler Staat selbst gewährleistet? Das Urteil stammt nicht von fremden Richtern, sondern von unseren eigenen!

Vogt: Nochmals: Die Aussage in diesem Urteil gilt allgemein, es ging nicht nur um den Einzelfall. Das Bundesgericht hat ganz bewusst die Diskussion über das Verhältnis von Verfassung und nicht zwingendem Völkerrecht in eine bestimmte Richtung gelenkt. Der relevante Passus lautet, das Bundesgericht könne «der vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertung insoweit Rechnung tragen, als dies zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht» führe. Damit wird der Vorrang des Völkerrechts gegenüber der Verfassung festgehalten. Ein solches Urteil ist auf jeden Fall ein Anlass, dem Schweizer Stimmvolk die Frage vorzulegen: «Findet ihr das richtig?»

Jositsch: Wissen Sie, Herr Vogt, was mit dem Entscheid passiert ist? Das Parlament hat sich letztlich nicht darum gekümmert. Es hat vielmehr die Ausschaffungsinitiative wortwörtlich umgesetzt, die Härtefallklausel hineingenommen und sich dabei auf das Verhältnismässigkeitsprinzip in der Bundesverfassung berufen, nicht auf die EMRK. Der Entscheid hatte praktisch überhaupt keine Bedeutung.

Vogt: Es mag zwar sein, dass das Parlament in der Diskussion über die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative nicht darauf Bezug genommen hat. In der verwaltungsinternen und politischen Diskussion über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative hat man aber bereits unter Bezugnahme auf das Urteil die Umsetzung gebremst. Das ­Urteil entfaltet also seine Wirkung, wie hoffentlich jedes Urteil, und wird von der Verwaltung ernst genommen.

Daniel Jositsch, 50, ist ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften an der Universität Zürich und SP-Nationalrat. Im kommenden Herbst kandidiert er für den Ständerat.

Hans-Ueli Vogt, 45, ist ordentlicher Professor für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich und seit 2011 Zürcher Kantonsrat für die SVP. Er ist der lenkende Kopf hinter der anrollenden Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)». Im kommenden Herbst kandidiert er ebenfalls für den Ständerat.

Protokoll: Florian Schwab