Ich weiss nicht, wer überraschter war, dass dieses Treffen zustande kam, die Weltwoche oder ich. Schliesslich ist da etwas Seltsames daran, dass der Ministerpräsident eines fernen mitteleuropäischen Landes mit zehn Millionen Einwohnern einen Vortrag zum Geburtstag eines der grössten konservativen Blätter des deutschsprachigen Raumes hält. Die Wahrheit ist, dass hier jetzt ein Adenauer oder ein Helmut Kohl stehen müsste, doch müssen Sie sich heute mit mir zufriedengeben.

Klären wir, wie ich hierher gelange. Dies kann auch mehrere Gründe haben. Der erste ist, dass ich Ihr Blatt hoch schätze. Ich gehöre zu jenen, die der Ansicht sind, dass die europäische Politik ohne die Weltwoche ärmer wäre. Heute ist in Europa, heute ist in der europäischen Politik die allgemeine geistige Tendenz die progressiv-liberale Richtung. Es ist beruhigend, dass es ein deutschsprachiges, konservative Werte vertretendes Blatt gibt. Für mich besitzt es den Charakter einer Therapie, dass ich jetzt hier sein darf. Es ist auf jeden Fall eine gute Nachricht, dass es noch einen Ort in Europa gibt, an dem man frei sprechen darf. Und die Schweiz ist zweifelsohne so ein Ort. In den anderen Ländern Europas herrscht eine progressiv-liberale Hegemonie, und die konservative Rede und das konservative Programm ziehen eine sofortige Stigmatisierung nach sich.

 

Schweizerisch-ungarische Freundschaft

Den anderen Grund, warum ich vielleicht hier sein darf, drückt der lateinische Spruch folgendermassen aus: Similis simili gaudet (Gleich und gleich gesellt sich gern). Die Weltwoche ist nicht so wie ein Mainstream-Medium, und ich bin nicht so wie ein Mainstream-Politiker. Ich hoffe, das Interesse ist gegenseitig. Auch mich interessiert, was Sie hier mehrere hundert Kilometer westlich von meiner Heimat denken, und vielleicht interessiert es auch die Leser der Weltwoche, was man einige hundert Kilometer östlich über Europa denkt.

Der dritte Grund ist, dass es eine schweizerisch-ungarische Freundschaft gibt. Keines der beiden Völker ist allzu rührselig, wir pflegen hierüber nicht zu sprechen, doch diese gibt es. 1956 ist etwas, das ich hier nicht erklären muss. 1956 bedeutete in Ungarn grosses Leid. Wir danken Ihnen, dass Sie, die Schweizer, unsere Flüchtlinge aufgenommen haben, und wir danken unseren Flüchtlingen, dass sie hier Wertschätzung und Respekt errungen haben und deshalb Ungarn wegen der hierher geflüchteten «56er» einen guten Ruf besitzt. Wir danken Ihnen dafür! Doch auch John von Neumann, der Vater der Computer, hat die Universität in Zürich besucht. Abrahám Ganz war der grösste ungarische Industriemagnat, er war ein Schweizer, er erschuf in Ungarn die moderne ungarische Industrie.

«Ich gehöre zu jenen, die der Ansicht sind, dass die europäische Politik ohne die Weltwoche ärmer wäre.»Und meiner Ansicht nach gibt es kein weiteres europäisches Land, in dem man über Wilhelm Tell hinaus auch noch andere Akteure jener Geschichte kennen würde. Doch wir in Ungarn wissen, wer dieser Hermann Gessler ist, wir wissen, wer Rudolf Harras ist. Wir wissen, wer der Hirte Kuoni, Walter Fürst und Ital Reding sind. Nicht zu reden von Stüssi dem Flurschütz. Wissen Sie, woher wir dies wissen? Von den Blättern der sogenannten ungarischen Karten, denn sie sind auf dem populärsten ungarischen Kartenspiel abgebildet. Als ich dieses Spiel erlernte – es lohnt sich, um kleine Summen zu spielen –, da lernte ich von meinem Vater, dass aus diesem Grunde die Schweizer Helden der Freiheit beziehungsweise die Teilnehmer am Freiheitskampf abgebildet sind, denn als diese Karten nach der Niederschlagung des 1848er Freiheitskampfes gedruckt wurden, war es verboten, ungarische Freiheitskämpfer abzubilden. Deshalb findet man statt Lajos Kossuth auf den ungarischen Karten Wilhelm Tell und so weiter. Deshalb wissen wir vom Freiheitskampf der Schweizer, wir wissen, wer dessen Akteure waren, und von hier wissen wir, dass das Schweizervolk ein die Freiheit liebendes und kämpferisches Volk ist. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kennen auch die Schweizer Legenden, auch in ihnen steckt einiges an Romantik. Wir wissen auch von dem hunnischen Stamm, der sich angeblich hier auf dem Rückzug der Hunnen irgendwie verirrt hat und seitdem auch hier in einem Tal lebt. Wir wissen, auch der Staat der Schweiz gründet – wie der ungarische – auf einer einem Blutvertrag ähnlichen Vereinbarung, nur waren sie bei uns nicht zu viert, sondern es waren sieben. Sieben Stämme, die den Blutvertrag abschlossen und damit die ungarische Nation erschufen.

Aktueller, aber wichtig: 900 Schweizer Firmen sind in Ungarn tätig. Mehr als 30 000 Familien verdienen ihr Brot bei Schweizer Firmen. Unser Handel nimmt kontinuierlich zu. Vielleicht war dies der vierte Grund dafür, dass Sie einen Ungarn zu diesem Anlass eingeladen haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Der Hauptgrund aber mag sein, dass ich – entgegen dem Anschein – der Doyen der europäischen Ministerpräsidenten, der am längsten amtierende Ministerpräsident in Europa bin. Ich bin im 17. Jahr als Ministerpräsident. Daraus folgt, dass ich schon vieles gesehen habe. Ich habe mit der Politik in den achtziger Jahren angefangen, im antikommunistischen, im Jugend- und Universitätswiderstand. Dann bin ich bei den ersten Wahlen, 1990, Parlamentsabgeordneter geworden. Das sind 33 Jahre! Ich habe sechzehn Jahre in der Opposition verbracht und siebzehn Jahre in der Regierung. Also, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe eine eigene Sicht auf Europa. Vielleicht darf ich deshalb jetzt hier stehen. Ich habe diese Einladung angenommen, weil ich die europäische Politik aus einer anderen Perspektive betrachte als der taktischen Dimension der Tagesereignisse. Als ich mein Metier begonnen hatte, hiessen meine Kollegen noch Chirac, Kohl, Blair, Aznar. Auch das gab es.

Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, worüber ich noch sprechen möchte, das ist unser gemeinsames Problem, das gemeinsame Problem der Schweiz und Ungarns, und es heisst Europäische Union. Sie sind kein Mitglied der Europäischen Union. Sie sind nicht Mitglied der EU, doch sind Sie dennoch Europäer, und in Brüssel geht es auch um Sie, die dort gefassten Beschlüsse haben auch eine Auswirkung auf Sie, so, wie ich das gestern im Laufe der Unterredungen mit Ihrem Bundespräsidenten auch detailliert erfahren konnte. Und 2024, bei der Wahl zum Europäischen Parlament, an der Sie nicht teilnehmen, da Sie nicht Mitglied sind, geht es auch um Sie, denn die dann entstehenden Kräfteverhältnisse werden auch Ihre Teilnahme am einheitlichen gemeinsamen Markt beeinflussen.

 

Adenauer, Schuman, de Gaulle

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Konservativen stimmen heute in Europa darin überein, dass Europa nicht mehr sein eigener Herr ist. Seine Beteiligung am Gesamt-BIP der Welt nimmt ab, bis 2030 wird es laut den Prognosen unter den zehn grössten Volksirtschaften nur noch ein einziges europäisches Land geben: Deutschland auf dem zehnten Platz. Die anderen fallen alle aus den ersten zehn heraus. Mit der Erweiterung kommen wir offensichtlich nicht voran, und mit den regionalen Konflikten – sei es der Balkan oder die Ukraine – ist Europa nicht in der Lage umzugehen. Ich werde also heute über die Probleme Europas sprechen, unverblümt. Das Thema ist schwierig, hinzu kommt noch, dass die Sprache, die ich spreche, das Ungarische, eine robuste Sprache ist, voller kräftiger Verben und expressiver Bilder. Ich will nicht provozieren, doch so, an einem Vormittag, geht so etwas vielleicht noch. Und wenn jemand seinen Frühstückskaffee versäumt haben sollte, so garantiere ich: Das, was er hören wird, wird ihn wachrütteln, er ist nicht vergeblich gekommen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Gleich zum Anfang möchte ich meine These aussprechen, die Schlussfolgerung meines Vortrages vorausschicken. Meine These lautet: Europa hat seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung verloren. Das bedeutet, es ist nicht in der Lage, zu bestimmen, was seine Ziele sind, und es kann nicht erkennen, welche Instrumente es zum Erreichen seiner Ziele anwenden muss, das heisst, es ist unfähig zum selbständigen und souveränen Handeln. Ich sage das mit Bitterkeit, für einen ungarischen Menschen ist das ein schmerzhaftes Gefühl, denn wir sprechen ja doch über die Wiege der westlichen Zivilisation. Und es stimmt, die westliche Zivilisation hat auch auf anderen Kontinenten Fuss gefasst, aber ihr Mark, ihr Kern befindet sich doch hier in Europa. Es tut weh, was wir heute sehen. Gehen wir zurück in der Zeit! Wie ist diese Situation entstanden?

«Ich werde also heute über die Probleme Europas sprechen, unverblümt.»Vor dem Zweiten Weltkrieg besass Europa die Fähigkeit, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Leider konnte es diese nicht nutzen. Zwischen den beiden Weltkriegen nutzten die Völker Europas ihre Kräfte, um einander anzufallen, und dabei haben sie einander geschwächt, vielleicht endgültig geschwächt, es entstand ein Bürgerkrieg innerhalb der europäischen oder christlichen Zivilisation. Es ist nicht gleichgültig, wer gewonnen und wer verloren hat, doch insgesamt, auf einem europäischen Horizont, haben wir alle verloren. Denn das Ende der Sache war, dass die aussereuropäischen Kräfte erstarkt sind. Ich spreche von den Vereinigten Staaten und der nur mehr als schlechte Erinnerung existierenden Sowjetunion. Europas westliche Hälfte geriet unter amerikanische Besatzung und amerikanischen Einfluss, und die östliche Hälfte geriet unter sowjetische Besatzung. Da haben wir das erste Mal die Fähigkeit der Selbstbestimmung verloren.

«Die Amerikaner sind stark in der Fähigkeit, amerikanisches Interesse als universal hinzustellen.»Es ist wichtig, dass wir nicht glauben, beide Besatzungen hätten die gleiche Bilanz. Über die Bilanz der sowjetischen Besatzung muss man hier nicht viel sagen, eine eindeutige Diktatur, Unmenschlichkeit, Grausamkeiten, wirtschaftliches Zurückbleiben, intellektuelle Aussichtslosigkeit und Verarmung. Das ist die negative Seite. Auf der positiven Seite findet sich beinahe gar nichts. Der westliche Teil des Kontinents ist aber lange mit der amerikanischen Dominanz gut gefahren. Zunächst war dort die Institution der Marshall-Hilfe, die das in Trümmern liegende Westeuropa auf die Beine stellte, und das ist zweifellos das Verdienst der Amerikaner. Zugleich türmte sich in diesem Zeitraum vor den führenden europäischen Politikern eine sehr grosse intellektuelle Herausforderung auf: Sie mussten die Stellung Europas in dieser neuen Welt bestimmen, als die beiden Hälften Europas von zwei Seiten aus besetzt waren. Die intellektuelle Herausforderung war, wie Europa weiterhin Europa bleiben könnte, wie es seine eigene Qualität bewahren könnte, dass es sich dabei doch an die Kräfteverhältnisse anpasst, die entstanden waren. War das möglich? Ich persönlich schätze die damaligen führenden europäischen Politiker deshalb hoch, weil sie diese intellektuelle Aufgabe gelöst haben. Adenauer, Schuman, de Gaulle haben ausgedacht, wie in Westeuropa die europäische Qualität in einer durch angelsächsische Gepflogenheiten und Normen beherrschten Welt erhalten bleiben soll. Denn es war eindeutig, dass die Vereinigten Staaten erwarteten, dass es in Westeuropa Demokratien geben und die Wirtschaft die kapitalistische Wirkungsweise und Einrichtung übernehmen sollte. Den damaligen Führern war es klar, dass ein einfaches Kopieren, die einfache Übernahme der amerikanischen Muster in Europa zu einer Katastrophe führen würde, da die angelsächsischen politischen und wirtschaftlichen Muster in Europa nicht heimisch, nicht eingefahren waren. Also musste man irgendwie der Demokratie und auch dem Kapitalismus ein europäisches Antlitz, eine eigentümliche Qualität geben, damit diese neue Einrichtung in Westeuropa erfolgreich werden konnte. Diese Lösung wurde die Christdemokratie.

 

Zwischen soft und hard power

Wenn Sie bedenken, dann hat die Christdemokratie eine Antwort auf die Frage gegeben, wie man in die rein auf Wettbewerb fussende Demokratie den Begriff des Gemeinwohls einschmuggeln kann. Die auf einem Vertrag basierende Annäherung an die Demokratie, die der angelsächsischen Welt eigen ist, wurde durch den Gedanken des Gemeinwohls ergänzt, und dadurch kam eine eigentümliche europäische politische Qualität zustande. Wir können ruhig sagen, dass das, was man in der angelsächsischen Welt als liberale Demokratie bezeichnet, man in Europa Christdemokratie nannte. Und das ist auch mit dem Kapitalismus geschehen, denn der Kapitalismus der Vereinigten Staaten des – nennen wir es so – Cowboy-Typs ist Europa doch fremd. Da haben wir doch die grössere Verantwortung, denn die Solidarität, die für die Nachbarn empfundene Verantwortung, also diese tiefe, christliche Tradition, ist in unserer Wirtschaft enthalten. Und die Christdemokratie hat auch dies gut vollbracht. Das ist gelungen.

Im geistigen Sinn konnte Westeuropa, das damals das Europa war, ein selbständiger Faktor bleiben. Dies bedeutet, dass die damaligen Führer Europas genau wussten – wenn Sie ihre Reden lesen, werden Sie das sehen –, worin der Unterschied zwischen ihnen und den Amerikanern bestand. Und dass sie in der Lage, dass sie fähig waren, diesen Unterschied, die europäischen Interessen zu formulieren und auch innerhalb einer amerikanischen Hegemonie zu vertreten. Deshalb schied sich die Geschichte von Ost- und Westeuropa voneinander. Im Osten gab es eine gewalttätige Musterübernahme, die Sowjets, die Russen zwangen uns ihr eigenes sowjetisches Muster auf. Die amerikanische Macht wurde aber über andere Kanäle ausgebaut als das sowjetische System. Sie haben eher Positionen in Europa ausgebaut. Sie fassten Fuss in Beschlussfindungszentren, Hintergrundinstitutionen, Lobbygruppen und im kulturellen Raum. Wie man das heute nennt, war das eher soft power, entgegen der brutalen sowjetischen hard power.

 

Amerikanische Dominanz

Von hier an kann sich schon ein jeder persönlich daran erinnern, was geschehen ist. 1990 gewann der Westen den Kalten Krieg gegenüber dem Osten, der Sowjetunion, wir wurden frei, und die sowjetischen Machtstrukturen verschwanden ganz einfach aus Europa, auch aus der östlichen Hälfte Europas. Die spannende Frage ist – und dies führt uns zum Heute –, was in den vergangenen 33 Jahren mit den amerikanischen Strukturen geschehen ist. Dies führt uns zu der provokativen Frage, ob es schlecht ist, dass nach 1990 die Amerikaner hiergeblieben sind.

Untersuchen wir diese Frage! Darin steckt Logik, denn es handelt sich ja doch um den stärksten Staat der westlichen Zivilisation, und es ist logisch, dass dieses Bündnis durch das stärkste Mitglied angeführt werden sollte, und das sind die Vereinigten Staaten. Deshalb war es akzeptabel, ja nützlich für Westeuropa, dass so eine Aufstellung entstand: christliches westliches Europa, christliche westliche Vereinigte Staaten. 1990 war das noch so. Diese Aufstellung hat sich bis heute verändert. Das ist der grosse Unterschied zwischen 1990 und 2023. Der letzte Zeitraum, in dem das christliche westliche Europa und die christlichen westlichen Vereinigten Staaten kooperiert haben, war in jenem von Ronald Reagan, der über seine Heimat sprach als: «One nation under God, a city on the hill.» Und damals gab es auch noch in Europa eine christdemokratische Führung. Also verursachte die gesamte amerikanische Anwesenheit keinerlei Problem, mit dem man nicht umgehen konnte. Die Situation hat sich aber geändert, denn in der Zwischenzeit haben in den Vereinigten Staaten die progressiven liberalen Kräfte mit bestimmendem Gewicht und mit bestimmender Kraft die christlichen politischen Kräfte abgelöst. Die Konservativen haben überall, sowohl in Westeuropa als auch in Amerika, zu spät geschaltet, und wenn Sie sich umschauen, werden Sie sehen: In alle wichtigen Positionen sind die progressiven Liberalen gelangt. Dies bedeutet, dass die amerikanischen Positionen heute in Europa im Wesentlichen progressiv-liberale Prinzipien vertreten und die Leitung des Kontinents übernommen haben. Und die Amerikaner verbreiten heute überall, auch in Europa, mit voller Kraft diese progressiv-liberalen Prinzipien. Die grosse Frage ist, ob es Europa unter solchen Bedingungen möglich ist, erneut seine eigene Qualität zu erschaffen und innerhalb des grossen westlichen Bündnissystems trotzdem seine Selbständigkeit aufrechtzuerhalten. Dies nennt man heutzutage höflich «strategische Souveränität». Das sagen die Franzosen, deshalb ist es so elegant: strategische Autonomie, aber es bedeutet das, wovon ich spreche. Nur ist es ihnen nicht erlaubt, dies auf diese Weise derart offen auszusprechen.

Die spektakulärste Äusserung dieser Erscheinung ist, dass Europa seine Politiker grossen Formats verloren hat, die an die früheren Grossen erinnern würden. Nicht zufällig haben wir den grossen Kontrast empfunden, als ich vorhin die alten führenden Politiker aufgezählt habe und wir alle uns die derzeitigen ins Gedächtnis riefen. Das ist kein Wunder, denn der politische Scharfblick und die Fähigkeit zu handeln sind so wie auch alle anderen menschlichen Fähigkeiten. Das ist auch in unserem Beruf so; wenn du etwas nicht übst, dann verkümmert es. Genauso wie die Muskeln der Astronauten im Zustand der Schwerelosigkeit. Und da nach 1990, nachdem die grosse Generation, Chirac und Kohl, abgetreten war und eine dominante, liberale, amerikanische progressiv-liberale Dominanz zur Geltung kam, haben wir es uns praktisch abgewöhnt, jene unserer Fähigkeiten zu gebrauchen, ohne die es keine grossformatigen europäischen führenden Politiker gibt. Was ich sage, ist keine Kritik an Personen, dies richtet sich gegen niemanden, ich gebe eine strukturelle Beschreibung, denn von so einer Struktur kann man schwerlich erwarten, oder vielleicht kann man das auch gar nicht von ihr erwarten, dass es führende Politiker geben soll, die an die alten Grossen erinnern. Wenn wir es von hier aus betrachten, dann ist es aber schon ein Problem, dass die Amerikaner über eine derart starke Position in Europa verfügen. Heute sieht die Sache so aus, selbst wenn es sich brutal anhört, dass das Schicksal Europas an Amerika gekettet ist. Das bedeutet, wenn sie an Raum verlieren, dann treffen auch uns die Nachteile dessen. Und das ist heute die Haupttendenz der Weltpolitik: amerikanischer Raumverlust und als dessen Folgen Verluste, Positionsverlust auch auf der Seite Europas.

 

Natur der Wertedebatten

Meine Damen und Herren!

Die Amerikaner sind stark in der Fähigkeit, das als universal, als universellen Wert hinzustellen, was in Wirklichkeit amerikanisches Interesse ist. Das scheint so ein kleiner Trick zu sein, doch besitzt dies im intellektuellen Sinn schwerwiegende Konsequenzen, denn wenn du die Aussenpolitik auf eine Wertebasis stellst und du deine Werte dahinter verbirgst, dann gibt es nicht mehr die Möglichkeit zum sinnvollen Dialog. Denn du versuchst ja nicht Interessen aufeinander abzustimmen, sondern du musst jene durch den anderen als Postulate formulierten, hohen Werte akzeptieren, über die du weisst, dahinter steckt in Wirklichkeit amerikanisches Interesse, doch kannst du dich nicht dagegen verteidigen, denn dann wendest du dich gegen die Werte. Dieses Spiel läuft Tag und Nacht. Auch die Europäer haben sich dies angeeignet. Wenn sie über europäische Werte sprechen, dann stecken dahinter im Allgemeinen die Interessen irgendeines grossen europäischen Landes. Das Wesentliche ist in beiden Fällen das Gleiche. Wir können bedeutende aussenpolitische Fragen nicht sinnvoll diskutieren, weil es niemand zuzugeben wagt, dass er seine Interessen vertreten will. Die Interessen kann man aufeinander abstimmen, die Werte nicht. Die Natur der Wertedebatten ist eine ganz andere als die der Interessendebatten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Vereinigten Staaten haben nach 1990 nicht nur in Europa, sondern auf dem gesamten Globus mit einer Verwestlichung begonnen und versucht, die progressiv-liberalen Prinzipien zu exportieren. Wir alle kennen das, wir haben es erlebt, der Tagespresse konnte das ein jeder in den vergangenen dreissig Jahren entnehmen, und man weiss, der Plan hat nicht geklappt. Einerseits verursachte er einen grossen Haufen an Kriegen an den verschiedensten Punkten der Welt. Andererseits begann der nicht westliche Teil der Welt feindlich auf die Vereinigten Staaten zu blicken. Dazu haben wir noch China in das System des Freihandels hereingeholt, das viel schneller erstarkte, als das auch nur jemand angenommen hätte, und heute ist es die Situation, dass China zum Vertreter der den Westen ablehnenden – nennen wir sie die betrübten – Länder geworden ist. Es ist das geschehen, was noch zu Beginn der neunziger Jahre Huntington, über die Zukunft der Welt nachdenkend, in einem fantastischen Buch geschrieben hat. Er schrieb, wenn die Vereinigten Staaten mit der Verwestlichung der Welt fortfahren, werden sie erreichen, dass sich die ganze nichtwestliche Welt gegen sie wenden wird. Und dieses Gefühl können sie – was noch hinzukommt – durch China in der internationalen Politik kräftig vertreten. Da die Vereinigten Staaten von immer mehr Orten der Welt verdrängt werden, und wir Europäer haben uns an sie gebunden, so verlieren auch wir ständig unsere Positionen. Das wird schwerwiegende Folgen haben. Sie sehen es auch, es reicht ein Konflikt irgendwo in der Welt, wo die Vereinigten Staaten vitale Interessen besitzen, Nahost – aktuell –, pazifischer Raum – das ist es ebenfalls –, und für die Vereinigten Staaten sind die anderen Teile der Welt plötzlich wichtiger als Europa.

«Was wird sein, wenn es in den Vereinigten Staaten einen politischen Kurswechsel gibt?»

Dies wirft ernsthafte Fragen auf. Und in Brüssel gibt es nicht nur keine Antworten auf diese Frage, sondern man versteht nicht einmal die Frage. Um hier nur ein Problem anzuführen, damit es konkreter ist, worüber ich spreche. Hier ist der russisch-ukrainische Krieg. Stellen wir die Frage: Was wird sein, wenn es in den Vereinigten Staaten einen politischen Kurswechsel gibt, sagen wir, die in der Angelegenheit der Ukraine skeptischeren Republikaner kommen an die Macht? Dann wird Amerika seine Kräfte umgruppieren, vielleicht sogar noch der Angelegenheit den Rücken kehren. Und wir Europäer werden mit einem gewaltigen geopolitischen Konflikt hierbleiben. Für uns ist das wichtig, unser östlicher Nachbar ist die Ukraine, und wir werden dann eine politische Lösung für eine beinahe unmögliche Angelegenheit finden müssen, und wir werden die gesamte finanzielle Last der Wiederherstellung der Ordnung tragen müssen. Aus der Schweiz gesehen, mag es nur schwer glaubhaft klingen, aber Europa befindet sich in einer Entwicklung der Verarmung, es hat kein Geld für ein so grosses Abenteuer und eine so grosse Unternehmung. Ich will diese Frage nicht beantworten, ich wollte nur die Konsequenzen dessen skizzieren, welche Folgen das schon jetzt hat, wenn sich Europa, statt sich der Vertretung seiner eigenen Interessen zu widmen, an die Vereinigten Staaten kettet, und welche Folgen dies in der Zukunft haben kann, im Hinblick darauf, dass in der ganzen Welt sich eine Umordnung vollzieht.

 

Entscheidungen aus Brüssel

Meine Damen und Herren!

Vielleicht habe ich noch ein paar Minuten, dieses Problem führt uns zum Problem der Führung, zum Problem der politischen Führung, das heisst also in der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ja eine eigentümliche Kreation, ein sui generis. Also solch ein Tier existiert laut der Lexika nicht, doch in der Wirklichkeit gibt es das. Die Führung, die politische Führung dieses Etwas, dieses Konglomerats müsste eine Europäischer Rat genannte Körperschaft versehen, der die ersten Leute, die Ministerpräsidenten und Präsidenten der 27 Mitgliedstaaten, umfasst. Die Wirklichkeit, die ich sehe, ist die, dass anstelle des Rates und der nationalen führenden Politiker die Brüsseler Institutionen immer mehr Entscheidungen treffen. An den Institutionen gibt es natürlich an sich auch nichts auszusetzen, denn ohne Institutionen gibt es auch kein zivilisiertes Leben, doch ist das schon ein grosses Problem, wenn die Institutionen nicht die Arbeit verrichten, die ihre Aufgabe wäre. Die Institutionen sind immer bürokratisch. Sie sind dazu da, um die Beschlüsse der Politiker auszuführen, und nicht, um anstelle der Politiker Beschlüsse zu fassen. Anstatt die europäischen Strukturen lang und breit zu analysieren, sage ich nur, wenn Sie nur an Ihre täglichen Presselektüren denken, wie oft scheint es in der Öffentlichkeit, als ob die Führung Europas durch die Europäische Kommission und ihre Präsidentin versehen werden würde? Wir denken an sie und lesen ihre Sätze, als ob eine Führerin Europas spräche, dabei ist sie unsere Angestellte, unsere bezahlte Angestellte, deren Aufgabe es ist, das auszuführen, was wir beschlossen haben.

Ich war dort, als diese Veränderung eintrat. Früher, noch in der Zeit von Barroso, in der Zeit von Herrn Präsident Barroso war die Kommission eine Vollstreckerin, eine Bürokratie. Die Veränderung trat bei Herrn Präsident Juncker ein, der das Programm verkündete, er werde die Kommission in eine politische Körperschaft umformen. Aber das ist ein anderes Metier. Davon versteht die Kommission nichts, davon verstehen wir etwas. Deshalb hat sich die Situation ergeben, dass die Bürokraten zwar die Dinge managen können, wenn die Sonne scheint. Es fällt gar nicht auf, dass Europa keine politische Führung besitzt, alles vollzieht sich friedlich, bewährte Routinen, bekannte Verfahren. Doch wenn es Probleme gibt, eine Krise kommt, na, da werden Führer benötigt. Da sind Politiker notwendig. Die charakteristischste Eigenschaft des Politikers ist, dass er in der Lage ist, die Dinge zu überschreiben. Der wahre Politiker tut sich nicht darin hervor, die Dinge im vorgegebenen Rahmen zu halten, sondern indem er erkennt, dass man neue Rahmen setzen muss. Um es in einfachen Worten auszudrücken, ein Politiker ist der, der auszusprechen in der Lage ist: «Bisher haben wir die Dinge so getan, doch das ist nicht mehr gut, ab morgen machen wir sie anders.» Das können wir von keinerlei bürokratischer Institution erwarten.

 

Beamte statt Politiker

Die Situation ist die, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrte Teilnehmer der Geburtstagszusammenkunft, dass heute in Europa die Politiker fehlen und die Bürokraten überall dort sind. Und wenn das noch nicht genug wäre, so haben wir noch auch jenes Übel, dass die administrativen Institutionen im geistigen Sinn die aus den Vereinigten Staaten importierte progressiv-liberale Hegemonie besetzt haben. Wir haben es mit einer sehr eigentümlichen Mischung zu tun. Statt Politiker sitzen Beamte in führenden Positionen. Doch sind diese Beamten weltanschaulich nicht neutral, wie das die Bürokratie im Übrigen sein müsste und wie das der Beruf erfordern würde, sondern sie sind engagierte Anhänger jenes progressiven Liberalismus, der aus Übersee losging und ganz Europa besetzte. Ich bin nicht gekommen, um mich bemitleiden zu lassen, doch hiernach verdiene ich wirklich etwas Mitgefühl von ihnen. Dies hat zur Ursache, dass es keine starken nationalen Anführer gibt, und der Begriff «starker Anführer» selbst ist ein in Brüssel negativ konnotierter Ausdruck. Wenn also jemand in Brüssel zu sagen wagt, ein starker Anführer sei nötig, dann bekommt er die denkbar negativste Beurteilung. Man darf es nicht einmal aussprechen, dass starke führende Politiker nötig wären.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Hiernach ist die letzte Frage, die ich vielleicht beantworten sollte, was Mitteleuropa in solch einer Situation tun kann und was Ungarn in so einer Situation tun kann? Wegen des Gesagten hatte ich immer gedacht, dass Ungarn in dieser Situation irgendeine eigentümliche Verantwortung besitzt. Erstens weil es bei uns auch keine liberale Hegemonie gibt. Die haben wir bereits 2010 gebrochen. Es gibt Pluralismus, keine Hegemonie. Es gibt keine Koalitionsgeplänkel, da wir seitens der Wähler eine sehr starke Legitimation besitzen. Es gibt keine Unruhen auf den Strassen, es gibt keine Migration, die Zahl der Migranten beträgt in Ungarn null, zero, es gibt keinen einzigen! Ungarn hat also Zeit, über die Zukunft Europas nachzudenken, und das verleiht eine Art Verantwortung. Wir haben so versucht, dieser Verantwortung zu entsprechen, dass wir ein anderes Modell ausgearbeitet haben. Das, worüber ich bisher gesprochen habe, nennen wir Brüsseler Europamodell. Was in Ungarn geschieht – jetzt von den liberalen Schimpfereien abgesehen, diese sollten wir abziehen, was nicht einfach ist, denn sie bilden eine breite Schicht, ziehen wir diese also ab, aber wenn wir von diesen politischen Geplänkeln absehen und das Wesentliche betrachten, die Natur der Strukturen betrachten –, dann werden wir sehen, dass in Ungarn ein anderes Modell – das wir das ungarische Europamodell nennen – funktioniert. Natürlich wissen wir, wo unser Platz ist. Ein Land mit zehn Millionen Einwohnern. Ich pflege zu sagen: Wir können interessante Dinge sagen, wichtige aber nicht. Also sagen wir jetzt eine interessante Sache, denn wir haben einanderes gesellschaftliches, politisches Modell, auch ein anderes Wirtschaftsmodell ausgearbeitet als jenes von Brüssel. Hierüber jetzt nur kurz, ich nenne skizzenhaft nur einige Pfeiler oder Elemente.

Das Erste ist, dass wir nicht die wirtschaftliche Konzeption des «welfare state» akzeptieren. Der «welfare state» ist in Westeuropa etwas, dass der Staat seinen Bürgern den Wohlstand auf irgendeinem Niveau garantieren muss. Wir stimmen dem nicht zu. Bei uns gibt es den «workfare state», man muss also zuerst arbeiten, und wenn jemand gearbeitet hat, dann wird das Ergebnis dessen der Wohlstand sein. Nicht umgekehrt! Also auch wir wollen natürlich den Wohlstand für die Ungarn, doch dies kann der Staat nicht garantieren. Man muss ihn erwirtschaften, man muss diesen produzieren, dafür muss man arbeiten. Hier ist Leistung nötig. Das bedeutet natürlich ein soziales System eines ganz anderen Typs, das bedeutet ein viel härteres und schrofferes, kälteres System in Ungarn als das in Westeuropa gewohnte. Die Migranten kommen nicht nur deshalb nicht nach Ungarn, meine sehr geehrten Zuhörer, weil wir sie an der Grenze mit Hilfe eines riesigen Zaunes aufhalten. Nur in diesem Jahr haben unsere Grenzwächter 270 000 illegale Grenzübertrittsversuche vereitelt. 270 000! Das ist die eine Ursache. Doch sie kommen auch deshalb nicht, denn wenn sie irgendwo sein möchten, so ist das nicht Ungarn, denn laut den ungarischen Gesetzen kann ein nach Ungarn kommender Migrant sozial nur das erhalten, was ein ungarischer Staatsbürger bekommt. Und da bei uns alles mit Arbeit verknüpft ist, deshalb ist unsere Anziehungskraft in diesem Kreis eher als limitiert zu bezeichnen.

 

Mann und Frau, Vater und Mutter

Der zweite Pfeiler dieses ungarischen Modells ist nach der auf Arbeit basierenden Wirtschaft, dass wir die demografischen Herausforderungen anstelle der Migration durch die Familienpolitik handhaben wollen. Hierüber will ich jetzt nicht reden, dies wäre das Thema einer selbständigen, eigenen Konferenz. In Ungarn haben wir eine familienpolitische Wende erreicht, doch keine demografische Wende. Es ist die grosse Frage der Zukunft, ob dies uns gelingt? Alle unsere Kräfte hierauf konzentrierend, geben in ganz Europa wir in Ungarn das meiste Geld aus unserem GDP hierfür aus. Wird es uns gelingen, aus eigener Kraft unsere Bevölkerung aufrechtzuerhalten, oder nicht? – Das werden die kommenden zehn und einige Jahre entscheiden. So ein Teil, so ein Pfeiler unseres Modells ist das, was man «flat tax», die äusserst niedrigen Steuern, nennt, ein jeder zahlt eine Steuer von 15 Prozent. Die Familien mit Kindern nicht einmal so viel, denn nach den Kindern kann man auch diese erlassen. Es gibt keine Erbschaftssteuer. Die Körperschaftssteuer liegt unter 10 Prozent, sie ist die niedrigste in ganz Europa. Und es strömen die ausländischen Direktinvestitionen in das Land, die wir alle unterstützen. Ein Teil dieser Strategie ist, dass wir statt der Gender- die Familienwerte unterstützen. Bestandteil unserer Strategie ist – in dieser Hinsicht ist Ungarn ein altkonservatives Land –, dass die Verfassung vollkommen banale Dinge ausspricht. Zum Beispiel sagt sie, dass eine Ehe einen Mann und eine Frau braucht. Oder sie sagt – auch das ist eine vollkommen banale Sache, ein bisschen schämt man sich auch –, es ist in der Verfassung niedergeschrieben, dass der Vater ein Mann, die Mutter eine Frau ist. Das hört sich ziemlich primitiv an, doch kann ich so viel zu unserer Entlastung anführen: Nicht wir sind so primitiv, sondern die Welt.

Nun, ebenfalls ein Bestandteil dieses ungarischen Modells ist, dass wir nicht möchten, dass zwischen dem Osten und dem Westen im wirtschaftlichen Sinn erneut eine trennende Mauer entsteht, sondern wir haben eine Wirtschaftsstrategie, mit der wir den über die beste Technologie verfügenden östlichen Firmen und den technologisch besten westlichen in Ungarn zu einem Rendezvous miteinander verhelfen wollen. Wir haben Industrieparkanlagen, in denen gleichzeitig, nebeneinander eine riesige deutsche und eine chinesische Investition sind, sie stellen ein gemeinsames Produkt her. Das ist eine andere Strategie als das Decoupling und Derisking, über die man ansonsten in Europa so häufig etwas hören kann.

Und was das politische Leben angeht, statt der liberalen Hegemonie, der progressiven liberalen Hegemonie gibt es Pluralismus, und in den Debatten innerhalb der Europäischen Union vertreten wir einen souveränistischen Standpunkt.

Das ist es, was wir ungarisches Europamodell nennen. Die gute Nachricht ist, dass dieses funktioniert. Obwohl man schon mehrere tausend Mal und an Tausenden Stellen niedergeschrieben hat, dass diese Wespe nicht fliegen kann oder dass dieses Tier nicht existiert. Da pflege ich immer aus meinen Biologiestudien jene Erfahrung anzuführen, dass es auch über die Wespe eine Beschreibung gibt, Mathematiker haben sie angefertigt, nach der man mit einem so grossen Körper, mit einem so kleinen Flügel unmöglich fliegen kann. Doch die Wespe fliegt, folgerichtig dürfen wir nicht glauben, dass dieses Modell nicht funktioniert, denn es funktioniert.

 

Antworten auf die letzten Fragen

2022 und 2023 hat sich die Welt auf den Kopf gestellt. 2022 – erinnern Sie sich: Covid, dann Krieg –, obwohl sich die Weltwirtschaft auf den Kopf gestellt hat, gab es in Ungarn einen Rekord an Investitionen, an erster Stelle in der Europäischen Union, es gab einen Beschäftigungsrekord, und wir hatten auch einen Exportrekord. Und 2023 werden wir erneut einen Investitionsrekord, einen Beschäftigungsrekord und einen Exportrekord haben. Stellen Sie sich Ungarn so vor, dass wir, gemessen an der Bevölkerungszahl, weltweit auf Platz 96 stehen und hinsichtlich des Exportvolumens auf Platz 34. Und in bestimmten Technologien stehen wir auf dem zweiten, dritten, vierten Platz. Das ist so geschehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir dabei gleichzeitig in der Europäischen Union finanziellen Sanktionen unterworfen sind! Also die Europäische Union verweigert uns rechtswidrig die Übergabe jener Quellen, jener finanziellen Quellen, die dem Land zustünden. Das sind jährlich drei bis vier Milliarden Euro. Wir sind also in den schwierigen Jahren auf die Weise Rekordhalter, dass wir zugleich nicht jene drei bis vier Milliarden Euro erhalten, die uns im Übrigen zustünden, und dennoch ist dieses Modell zu diesen Ergebnissen fähig.

Summa summarum, was müsste hiernach die Europäische Union tun? Und ich verspreche, Herr Chefredaktor, dass ich jetzt schon wirklich zum Ende komme. In Ungarn kennt man den calvinistischen Witz, dass das Kind seinen Vater fragt, wann der Prediger mit seiner Predigt endlich zu Ende ist. «Mein Sohn, er hat sie schon beendigt, nur kann er nicht aufhören.» Das versuche ich zu vermeiden. Also was müsste Europa in dieser Situation tun? Zuerst einmal ist ein Drehbuch nötig, und wir müssen uns darauf vorbereiten, dass sich die Vereinigten Staaten teilweise oder ganz aus Europa zurückziehen. Und deshalb müssen wir uns ernsthaft mit der Schaffung der europäischen rüstungsindustriellen, Sicherheits- und militärischen Garantien beschäftigen. Man muss die politischen Führungsfähigkeiten rehabilitieren, man muss derartigen postmodernen Wahnsinn hinsichtlich der Führung vergessen. Diese vom Lehrstuhl für Soziologie entlaufenen Frankensteintheorien muss man vergessen, und man muss zur klassischen europäischen Führungskultur zurückkehren. Und wir müssen – das ist das Wichtigste –, wir müssten eine neue Generation von Politikern heranziehen, die in die Politik gehen. Doch ist die Politik heute nicht attraktiv. Und die talentiertesten Jugendlichen kommen nicht in die Politik. Und daraus können sich noch Probleme ergeben, besonders auf der konservativen Seite. Wir müssen eine neue konservative politische Generation erziehen. Wir dürfen nicht jene an die scholastischen Philosophen erinnernde Ausrede akzeptieren, laut der ich so lange nicht ins Wasser gehe, bis ich nicht das Schwimmen gelernt habe. Man muss die Jungen ins tiefe Wasser werfen, damit sie schwimmen und es lernen, ansonsten wird es keine junge konservative Politikergeneration in Europa geben. Meiner Überzeugung nach müssten wir in der Debatte über Decoupling, Lostrennung von oder Konnektivität mit den anderen Teilen der Welt die Position der Konnektivität einnehmen. Europa muss die Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückgewinnen.

Und ich mache noch eine letzte vorsichtige Bemerkung über das Christentum und die christliche Kultur, denn es ist meine Überzeugung, dass die christliche Kultur popularisiert werden muss, und es wäre kein Problem, wenn dies gepaart mit einer Evangelisierung geschähe, doch liegt dies schon ganz ausserhalb meiner Zuständigkeiten als Politiker. Das ist eine andere Welt. Doch wenn wir nicht unseren Glauben dahingehend zurückgewinnen, dass die Verfolgung des durch Christus vorgeschlagenen Weges die freieste, die menschlichste und lebenswerteste Welt ergibt, und wir auch hier die Antworten auf die letzten Fragen des menschlichen Lebens finden, wenn wir nicht diesen unseren Glauben zurückgewinnen, wird es sehr schwer werden, Europa erneut selbständig und erfolgreich zu machen.

Summa summarum, was ich Ihnen sagen wollte, meine sehr geehrten Damen und Herren, darüber hinaus, dass ich Ihnen einen frohen Geburtstag wünsche, ist, dass Ungarn nicht das schwarze Schaf ist, sondern die erste Schwalbe, und wir warten auf die anderen!

 

Viktor Orbán ist der Ministerpräsident Ungarns. Der vorliegende Text ist die deutsche Fassung der Rede, die er auf Einladung der Weltwoche am 22. November 2023 im Hotel «Dolder Grand» in Zürich hielt. Orbán sprach Ungarisch, seine Rede wurde simultan übersetzt.