Ajaccio

Noch immer in den Ferien, draussen die drückende, trockene Hitze Korsikas, die in mir das wunderbar erholsame Gefühl einer erhabenen Schläfrigkeit produziert, verschlinge ich Bücher über den Ersten Weltkrieg und über den tragischen deutschen Kaiser Wilhelm II., diesen von Geburt an entstellten, geistig begabten Monarchen, der nach einer genialen Formulierung des Schriftstellers Emil Ludwig am Ende daran scheiterte, dass er, Kaiser unter Höflingen, niemanden hatte, der ihm die Wahrheit sagte. Mit Deutschlands letztem Preussenherrscher ging «ein tüchtiges Geschlecht» auch deshalb unter, «weil er in seinem Volke keinen Widerstand fand, an dem er reifen konnte».

Meine Lektüre unterbrechen Fernsehabende mit den Olympischen Spielen von Paris. Dieses grandios inszenierte Sportfest hellt mein zuletzt von starken Zweifeln verdunkeltes Bild Europas merklich auf. Ich stelle bei mir sogar auffällige Symptome der Bewunderung für Frankreich fest, dieses so unendlich faszinierende Land, das unfähig erscheint, seinen Alltag zu organisieren, aber offenbar immer dann erblüht, wenn es darum geht, die eigene Grösse als Monumentalspektakel echter Illusionen zu gestalten. Von der bombastischen Eröffnungsfeier bis hin zum Schlussbouquet mit einem vom Himmel abgeseilten Tom Cruise passte die Choreografie.

Noch ist Europa, noch ist Frankreich also nicht verloren. Noch lange nicht. Die dekadenzschlaffen Abgesänge, zu denen leider auch ich manchmal neige, werden durch diese brillante Zurschaustellung der puren Freude kreativer Energie Lügen gestraft. Einmal mehr. Immer schon hatten die Kassandras Unrecht, die unserem so wilden Kontinent der grössten Vielfalt pro Quadratkilometer Bodenfläche das dräuende Ende prophezeiten. Wäre er Macron – so heisst der politisch in den Seilen hängende Regent, pardon: Präsident der Republik –, sagt mein Freund Thomas Trüb, würde er den Organisationschef dieser Olympiade sofort zum Premierminister Frankreichs küren, um den Geist der Spiele in die Politik zu übertragen.

Uns Schweizern fehlt einfach der Sinn für diesen sympathischen Grössenwahn der Fantasie.

Europa, das darf man nicht vergessen, hat innerhalb der letzten hundert Jahre im Grunde zweimal seinen Untergang überlebt. Das muss man erst einmal schaffen. Ich weiss, es ist unschicklich, die Geschichte der beiden Weltkriege in diesem lebensbejahenden, zuversichtlichen Licht zu deuten. Aber es bleibt unleugbar wahr, dass die Mächte des Bösen zwar Unvorstellbares verbrochen haben, sich aber eben nicht durchsetzten, sondern schliesslich auf das Elendiglichste zusammenkrachten. Aus den rauchenden Trümmern und Ruinen krochen die Überlebenden und bauten die von ihnen zuvor ruinierte Welt wieder auf. Europa ist stärker als die Politik, die es zweimal in den Abgrund stürzte.

Und Frankreich: Von diesen Spielen nehme ich den Eindruck mit, dass ich die Franzosen offenkundig unterschätze, und zwar massiv. Gewiss, schon die alten Römer übertünchten den Zerfall ihres Riesenreichs mit dem Glanz gigantischer Festlichkeiten. Bei den Franzosen aber habe ich das Gefühl, es sei gerade umgekehrt. Das geniale Schauspiel dieser olympischen Fantasiewelt ist kein Realitätsersatz. Es ist eine Gegenwirklichkeit, eine wahrere, höhere Wirklichkeit, mit der Frankreich, dieses Hollywood Europas, sein Potenzial als fantastische Erfindung aufglitzern lässt.

Die Kunst dieser kreativen Realitätsüberwindung ins Fantasieland einer das Normalmass überschiessenden Grösse der Einbildung zeichnet Frankreich aus, in einer Art, wie ich sie bisher nur den Amerikanern zugetraut hätte. Das ist auch der grösste Unterschied zur Schweiz und wohl der Grund dafür, warum wir die Franzosen niemals verstehen werden. Wir Schweizer, Weltmeister der Nüchternheit, bodenständig, erdverbunden, gute Verlierer, die sich wie die Schwinger das Sägemehl von den Schultern wischen, belächeln Olympische Spiele wie jene von Paris als Hokuspokus, als eine Art kunstvollen Betrug, aber damit ist den Franzosen Unrecht getan. Uns fehlt einfach der Sinn für diesen sympathischen Grössenwahn der Fantasie.

Grenzenlos war auch die patriotische Begeisterung der Medien. Die Kommentatoren lieferten die ebenbürtige Fortsetzung dieser olympischen Feier der weltumarmenden Grossartigkeit Frankreichs mit journalistischen Mitteln. Fast bei jeder Medaille euphorisierten sich die Reporter bis zur krächzenden Heiserkeit. Genial war in dieser Hinsicht der Finalmatch im Basketball zwischen den Franzosen und Amerikas Dreamteam mit den besten NBA-Stars. Bis ganz zum Schluss hielt Frankreich mit, gebrochen erst durch den Drei-Punkte-Bogenwerfer Stephen Curry, der mit der Tödlichkeit einer Kampfdrohne selbst aus grösstem Abstand millimetergenau ins Netz traf. Frankreichs Force de Frappe der Körbe auf Augenhöhe mit der Basketball-Supermacht USA: Spätestens hier überschlug sich der journalistische Enthusiasmus zum feierlichen Hochamt der Nation.

So freue ich mich jetzt auf die Rückkehr nach Zürich in ein paar Tagen. Die Olympischen Spiele waren ein brillantes Lebenszeichen unseres guten alten Europas, eine Inspiration. Natürlich war auch diese Veranstaltung nicht frei von den Schatten der Gegenwart, der Vereinnahmung durch die Politik, den Zeitgeist, der Krieg im Osten war zu spüren, weil die Russen fehlten, aber ich weigere mich, diese Misstöne in den Vordergrund zu stellen. Für mich überwiegt am Ende das Verbindende, die naive Begeisterung, das Positive, die Kraft der spielerischen Fantasie, die uns nicht vergessen lässt, dass im Menschen eben doch viel unendlich Gutes schlummert, und ich merke, wie diese Eindrücke selbst meine Lektüre und Deutung der Bücher über den Weltkrieg und den Untergang der Preussen prägen. Nicht der Absturz in die Hölle, das namenlose Versagen der damals Regierenden, keine Schlafwandler übrigens, sondern Polit-Hasardeure, die das Unheil sehenden Auges in Kauf nahmen, ist die Pointe. Nein, das Wunder der Rettung, des Überlebens, des Überwindens und Wiederaufstehens aus den Katastrophen, in die sich Europa immer wieder fallenliess: Dies ist der heimliche Sinn der europäischen Geschichte.