Silvester ist kein Fest, sondern ein Befehl. Dieser geht auf Julius Cäsar zurück, einen frühen Rechtspopulisten, der im Rahmen einer Kalenderreform den 1. Januar zum ersten Tag des Jahres erklärte. Die Wahl des Datums war reine Willkür, kalendarischer Terrorismus – und was ist das Perfide am Terrorismus? Dass man ihn nicht ignorieren kann! Noch aus dem 2000-jährigen Grab heraus zwingt uns Cäsar, jedes Jahr an Silvester irgendetwas zu tun. Man muss sich Silvester tatsächlich so vorstellen, dass Cäsar uns eine Champagnerflasche, die er vorher tüchtig geschüttelt hat, vors Gesicht hält und mit dem Daumen langsam den Korken hochdrückt. Was kann man in einer solchen Situation tun?

 

Nicht feiern, ist auch keine Lösung

Die eine Möglichkeit ist, sich dem Festdiktat zu unterwerfen. Die meisten Menschen haben sich für diese unrühmliche, aber bequeme Lösung entschieden. Spätestens Anfang Dezember laden sie Freunde zu einer Silvesterparty ein oder versuchen verzweifelt, selbst irgendwo eingeladen zu werden. Falls niemand sie einlädt und sie prinzipiell keine Freunde haben, buchen sie schon im August in einem Restaurant ein Silvestermenü mit Tanzkapelle. Man weiss nicht, was schlimmer ist: mit wildfremden Leuten in einem mit Konfetti bestreuten Saal Ballone aufzublasen, bis einem um fünf vor zwölf ein Äderchen platzt, oder im Kreise von Freunden um fünf nach zwölf in der Kälte auf dem Balkon zu stehen und irgendein schäbiges Mini-Feuerwerk mit «Ah!» und «Oh!» zu kommentieren, während einem die Ohren gefrieren. Danach muss man die bereits am Vortag vorbereiteten Glückwunsch-SMS an all die Lieben, die nicht da sind, in den Äther jagen, und dabei fragt man sich, wieso sie eigentlich nicht da sind und weshalb man mit Dödeln feiert, die einem an der Party eine Tischbombe in die Hand drücken und lallen: «Sünd die mal an, is vleicht ein Pariser drin!»

Draussen tobt das Leben, aber hier drin im Schlafzimmer pocht nur ein einsames Herz.

Wer an einer Silvesterparty nicht den kalten Hauch der Einsamkeit und des Todes fühlt, der hat den Charakter dieses Festes nicht begriffen. Aber einfach nicht zu feiern, ist auch keine Lösung: Silvester ist zu mächtig, Widerstand zwecklos. Es gibt Leute, die das ganze Jahr über aus Prinzip nie das machen, was alle machen. An Silvester sagen sie sich: «Fuck Caesar! Heute ist ein ganz normaler Tag. Ich gehe wie immer um zehn ins Bett!» Sie trinken um fünf vor zehn eine warme Milch mit Baldrian und stopfen sich Notones in die Ohren. Aber um Mitternacht holt die Wirklichkeit sie ein: Draussen wird Krach gemacht wie bei einem Kriegsausbruch. Die Glocken läuten, Explosionen bringen die Fensterscheiben zum Zittern, Leute kreischen, Hunde jaulen, Sirenen heulen. Dann liegen die Silvesterverweigerer hellwach im Bett und kommen sich vor, als seien sie tot. Draussen tobt das Leben, aber hier drin im Schlafzimmer pocht nur ein einsames Herz. Natürlich ist es ein billiges, besoffenes und massenpsychotisches Leben, das da draussen tobt, die friedliche Form eines Massenaufmarschs zum Nürnberger Reichsparteitag. Es ist vollkommen richtig, sich dieser Feier zu verweigern: Aber es macht einen nicht glücklich.

Und was jetzt? Gibt es vielleicht einen goldenen Mittelweg zwischen Mitfeiern und nicht feiern? Nein. Wer sich entschieden hat, das Champagnerglas in die Hand zu nehmen, der muss bis fünf nach zwölf mitspielen. Man kann nicht bis elf Uhr Silvester feiern und dann ins Bett gehen, und man kann auch nicht zu Hause bis drei Uhr nachts mit dem Partner Champagner trinken, aber um Mitternacht nicht anstossen. Jedes Verhalten ausser dem konventionellen Mitfeiern riecht nach psychischer Auffälligkeit. Gibt es also für Silvesterhasser keine Hoffnung? Man könnte sich natürlich einen Hund zulegen. Für Hundebesitzer gilt eine weltweit anerkannte Silvesteramnestie, man ist von jeglicher Teilnahme befreit, ohne deswegen als Querulant zu erscheinen. Aber lohnt es sich, deswegen das ganze Jahr über einen Hund zu füttern?

 

Lichter aus um zehn!

Die beste Lösung wäre die Gründung eines Vereins zur Abschaffung des 31. Dezembers. Mitglied könnte nur werden, wer eidesstattlich erklärt, dass er niemals und in keiner Form an Festivitäten zum Jahreswechsel teilnehmen wird, es sei denn unter physischem Zwang. Die Vereinsmitglieder müssten sich verpflichten, an Silvester um 22 Uhr ins Bett zu gehen, und das hätte den Vorteil, dass sie, wenn sie um Mitternacht aus dem Schlaf gelärmt werden, wüssten, dass sie nicht allein sind, sondern Teil einer Bewegung, die aufgrund der Überalterung der Gesellschaft von Jahr zu Jahr mehr Anhänger findet. Eine organisierte Verweigerung – auch Revolution genannt – macht glücklich, sogar euphorisch! Und die Zukunft leuchtet für den Verein zur Abschaffung des 31. Dezembers. Denn eines Tages könnte der Verein durch eine Koalition mit den Hundebesitzern (25 Prozent der Bevölkerung) und einen Pakt mit der Pro Senectute (gefühlte 80 Prozent der Bevölkerung) politisch so einflussreich werden, dass des Silvesters letzte Stunde geschlagen hat.

Hiermit gründe ich diesen Verein offiziell, gerade noch rechtzeitig vor dem diesjährigen Silvesterwahn! Als sein Vorsitzender und bisher einziges Mitglied gebe ich die Parole aus: «Gebt Silvester keine Chance! Lichter aus um zehn!» Dies ist ein Slogan in trochäischem Versmass, so dass er sich bei Demonstrationen vor dem Bundeshaus gut skandieren lassen wird. Noch bis zum 31. 12., 23.55 Uhr nehme ich Mitgliedschaftsanträge entgegen! Ich werde extra wach bleiben, obwohl ich sonst an Silvester um 22 ​​​​Uhr ins Bett gehe. Aber wie Lenin schon sagte: Für eine Sache, die grösser ist als man selbst, lohnt es sich, etwas länger wach zu bleiben.

Die 3 Top-Kommentare zu "Früh-zu-Bett-Geher aller Länder, vereinigt Euch!"
  • pSz

    Werter Herr Reichlin, ich bitte Sie dringlichst um Aufnahme in Ihrem Verein! Und um 4 Uhr 30 im Neuen Jahr trinken wir den ersten Kaffee; nämlich dann, wenn Alle endlich tief schlafen und nicht mal ein Maulwurf unter der Erde hustet. Herrlich, diese Ruhe!

  • gabi.xx

    Sehr geehrter Herr Linus Reichling: Trete gerne Ihrem Verein bei, obwohl ich es sonst nicht so mit "Vereinen" habe.....Mein Wunsch für das kommende Jahr an Sie: Bleiben Sie uns+der Weltwoche bitte erhalten und treu und schenken Sie uns (trotz allen Traurigkeiten, die sich immer mehr in den Seelen der Menschen manifestieren - wo auch immer) doch zwischendurch noch ein wenig etwas zum Schmunzeln dank einem feinen Humor, den Sie in Ihre Zeilen einfliessen lassen. Vielen Dank für Ihren Artikel.

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    Nichts gegen Feiern, sofern es etwas zu feiern gäbe: ich frage mich jeweils am Silvestertag: Wie war das vergangene Jahr und was dürfen wir vom neuen Jahr erwarten - und beides trübt in den letzten Jahren massiv die Stimmung. Für 2024 erwarten uns u.a. der total undemokratische WHO-Pandemie-Vertrag; das total undemokratische Zentralbankgeld; vermutlich Nahrungsmittel - und Energieengpässe; eventuell weitere kriegerische Ausbrüche und Eskalationen.