Der New Yorker Comedian Jay Leno, Sohn einer schottischen Mutter, wurde einmal gefragt, was er von der schottischen Küche halte. «Schottische Küche? Ich denke nicht, dass so etwas existiert. Wer sich einen Mars-Riegel kauft – die tunken sie in heisses Öl!» Die frittierten Schokoriegel sind keineswegs eine urbane Legende. 2004 belegte die britische medizinische Fachzeitschrift The Lancet deren Verbreitung mit einer Telefonumfrage: Rund ein Viertel der 22 Prozent der Fish-’n’-Chips-Läden in der Stichprobe verkauften solche, weitere 17 Prozent führten sie schon mal im Sortiment. «Erfreulicherweise fanden wir auch einige Hinweise auf das Vordringen der mediterranen Ernährung nach Schottland», heisst es im Bericht zynisch, «wenn auch in Form von frittierter Pizza.»

So deftig wie Gordon Ramsays Wortwahl

Ein anderes, weitaus traditionelleres Gericht klingt ebenfalls eher wie eine Mutprobe denn eine Delikatesse: Haggis, Nationalspeise Schottlands. Schafsherz, -leber und -lunge, vermengt mit Kräutern und Hafermehl und gerne gekocht im Magen desselben Tieres. Zurzeit erlebt das Innereien-Gericht zwar einen Hype in manch einem Londoner Lokal. Aber selbst das ändert wenig am Vorurteil, die schottische Küche sei eher . . . gewöhnungsbedürftig.

Von Haggis über Scotch pie bis zu black pudding, ein Blutwursterzeugnis aus gebackenem Schweineblut und Bestandteil eines jeden full scottish breakfast – die in vielen Pubs und Restaurants servierten Gerichte haben einen Hang, dem Auge so wenig zu schmeicheln wie der körperlichen Gesundheit. Viele kulinarische Klassiker hier sind so deftig wie die Wortwahl des berühmtesten Kochs von Schottland, Gordon Ramsay. Das weiss jeder, der schon mal hingefahren ist.

Die Gerichte haben einen Hang, dem Auge so wenig zu schmeicheln wie der körperlichen Gesundheit.Ein sehr anderes Urteil über die Landesküche wird vermutlich fällen, wer an einem Julitag das Restaurant des Hotels «Old Pines» in Spean Bridge besucht. Draussen uralte Kiefern, Freilandhühner, Ziegen und Highlands-Panorama mit Ben Nevis – auf dem Teller britische Spargeln, eine Brandade mit Bärlauch und Filet vom Nordseehecht. Vielleicht aber auch Lammnacken aus Aberdeenshire mit Borlotti-Bohnen, Tomaten und Basilikum.

Tatsache ist nämlich, dass Schottland nebst Fleisch auch Fisch von einer grossartigen Qualität anzubieten hat. So bedient sich ganz Europa in Peterhead an der Ostküste, wo sich der grösste Fischerhafen des Kontinents befindet. Kabeljau wird hier verladen, Seehecht, Seeteufel, Flügelbutt und, natürlich, haddock.

Noch weiter nördlich gibt es grüne Logenplätze mit Meeranstoss für die stolzen Aberdeen-Angusrinder. Das Fleisch dieser und anderer Rassen wird unter anderem durch das Label Mey Selections vertrieben, gegründet von König Charles III. im Jahr 2005. Das Mey-Angebot umfasst weiter geräucherten Lachs, schottischen Käse, Honig, Whisky-Cake, artisanal hergestellten Gin und single cask-Whisky.

Im Fahrwasser der New Nordic Cuisine

Wie so viele andere Länder bewegt sich auch Schottland im Fahrwasser der New Nordic Cuisine, die sich anhaltender Beliebtheit erfreut. Zu deren Dogmen zählen etwa die Verwendung von heimischen Zutaten, hohe ethische Produktionsstandards, weitreichende wirtschaftliche Unabhängigkeit und eine saisonale Küche mit Fokus auf natürlichem Geschmack.

In Tom Kitchins «The Kitchin» etwa, das sich in einem vormaligen Whiskylager in Edinburg befindet, wird kaum etwas serviert, was Schottland nicht hergibt. Dieser «Von der Natur auf den Teller»-Ansatz ist dem «Guide Michelin» einen Stern wert; in ganz Schottland gibt es zurzeit übrigens zwölf mit Sternen dekorierte Restaurants. Etwas allerdings, was Kitchin sehr wohl importiert hat, ist die Stilistik: Wie viele seiner Landsleute hat er nach französischer Fasson kochen gelernt. Der starke Einfluss der french cuisine geht zurück auf die sogenannte Auld Alliance, ein militärisches Bündnis zwischen Schottland und Frankreich aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit.

Essbare Kunstwerke

Auch Sean Kelly hat bei den Franzosen gelernt. Bei «Bertie’s» in Paris war er Konditor unter Albert Roux, der 1967 das erste französische Restaurant Londons, «Le Gavroche», eröffnete. Kelly ist Küchenchef im Restaurant des Hotels «The Lovat» in Fort Augustus am Loch Ness, das er gemeinsam mit seiner Frau Caroline seit gut zehn Jahren betreibt. «Ich mag einfaches Essen», sagt der gebürtige Engländer und selbsternannte Foodie, «man soll erkennen können, was auf dem Teller liegt.»

Auch Schottland bewegt sich im Fahrwasser der New Nordic Cuisine.Kelly betreibt einen immensen Aufwand, der ihn wiederholt an die Grenzen seiner körperlichen und physischen Belastbarkeit trieb. Steht er nicht am Herd, pflückt er Kräuter in der Umgebung, pflanzt Salat und Gemüse in einem Gewächshaus an und übertrifft sich gerne selbst, was das plating anbelangt, das Anrichten der Speisen zu essbaren Kunstwerken. Kellys Herz gehört klar der gehobenen Küche. Gleichzeitig würde es ihm dasselbe brechen, die Scones für den Afternoon Tea nicht selber zu backen, den er in seinem Vier-Sterne-Gasthaus ebenfalls anbietet, oder die buns für die Burger, die es früher in der hauseigenen Brasserie gab. «Mir geht es um die Qualität der Produkte und um die Kontrolle, die ich über Zutaten und Zubereitung habe», sagt er. «Vor allen Dingen aber soll es gut schmecken.»Und das tut es.

In Schottland, könnte das Fazit lauten, ist es nach wie vor viel schwieriger, sehr gutes Essen zu bekommen als sehr gute Produkte. Im 19. und 20. Jahrhundert prägten die Einwanderer aus Italien, Nahost, Indien, Pakistan und Polen die schottische Gastronomie und die Kochtalente von heute. In der zweiten Staffel von «Future Food Stars» sucht Gordon Ramsay zurzeit die Food-Entrepreneurs von morgen. Er hat nach wie vor die Kraftausdrücke – sie hingegen das Verständnis dafür, wie man Haggis zeitgemäss zubereitet. Vegetarisch nämlich.