«Wenn man Dummheiten macht,
sollten sie wenigstens gelingen.»
Napoleon Bonaparte

 

Untergänge überall. Vielleicht liegt es am Alter. Ich ertappe mich dabei, immer versöhnlicher zu werden. Irgendwo habe ich gelesen, die woke-Ideologie werde demnächst Europa zermalmen. Wenn ich am Morgen den Fernseher einschalte, glühen die Wetterkarten dunkelrot. Schlimmer noch als die nicht mehr abzuwendende Klimakatastrophe aber sei, haben anscheinend renommierte Forscher herausgefunden, die Weltbedrohung durch die «künstliche Intelligenz». Habe ich den Ukraine-Krieg vergessen?

Ich sehne mich nach Entspannung. Mein Hirn erkundet Fluchtwege aus dem Jammertal der Gegenwart. Linderung verschafft mir seltsamerweise die Lektüre von «1812». In diesem Buch beschreibt der amerikanisch-polnische Historiker Adam Zamoyski das kriminelle Fiasko des napoleonischen Russlandfeldzugs. Man kann die Geschichte als Kommentar zu aktuellen Ereignissen lesen: Wenn selbst der nach damaligen Einschätzungen genialste Feldherr aller Zeiten einen derart inkompetenten Wahnsinn entfesseln konnte, was ist dann heute Putin, Biden und Selenskyj zuzutrauen?

Spüre ich Anflüge von Fatalismus? Doch auch nach Napoleons selbstzerstörerischem, mörderischem Einmarsch, der namenloses Elend produzierte, ging das Leben weiter. Das ist tröstlich. Die Menschheit ist nicht umzubringen, obwohl es Teile davon immer wieder versucht haben. Ein unbegreiflicher Überlebenstrieb scheint unsere Spezies immer wieder und gerade noch vor dem Allerschlimmsten abzuhalten. Aus Ermangelung besserer Ausdrücke haben die Menschen dafür das Wort Gott erfunden – die Summe aller Rätsel, denen wir unsere Existenz verdanken.

Man muss dem Unsinn, einmal in der Welt, auch die Chance geben, sich zur Kenntlichkeit zu entstellen.

Möglicherweise ist es die Sommerhitze. Ich kann mich nicht so recht aufregen über die Irrtümer unserer Zeit. Kürzlich sass ich auf dem Flughafen München fest. Klimakleber hatten sich in Hamburg auf die Landebahn geleimt. Ich musste schmunzeln, obwohl es fürchterlich ernst war. Während wir Passagiere beim Sicherheitscheck gnadenlos durchleuchtet und begrapscht werden, kann man sich auf einem deutschen Flughafen offenbar unbehindert auf die Piste zementieren. Mein Sitznachbar vermutete, die Flughafenchefs, heimliche Komplizen, hätten den Klebern freie Bahn gewährt.

Ich bin ja einverstanden. Einige Grüne sind fürchterlich, und viele Linke sind ganz schlimm. Dieser ganze woke-Moralismus ist ein Angriff auf die Freiheit, der letzte Schrei all jener, die allen anderen befehlen wollen, wie sie zu leben und zu denken haben. Doch handelt es sich hier um etwas wirklich Neues? Die Menschen, links wie rechts, waren doch immer schon besoffen von sich selbst, von ihren Idealen, ihren Hirngespinsten, die sie für die reine Wahrheit halten. Herrschsucht und Verblendung sind Bestandteil unserer Natur. Übermut und Überfluss enthemmen die schlechten Eigenschaften.

Deshalb bin ich zuversichtlich. Natürlich ist es besser, den Unsinn zu verhindern. Aber man muss dem Unsinn, einmal in der Welt, auch die Chance geben, sich zur Kenntlichkeit zu entstellen, sich zu personifizieren und greifbar, abwählbar zu werden. Der Mensch lernt nur durch die Irrtümer, denen er immer wieder erliegt. An sich wären wir in der Lage, die Fehler unserer Vorfahren zu vermeiden, doch, geblendet von uns selbst, reden wir mit staunenswerter Fantasie uns immer wieder ein, diesmal sei alles anders. Ein Wunder, dass es die Menschheit immer noch gibt. Oder Vorsehung?

Der Mensch hat Mühe, sich seine eigenen Fehler einzugestehen. Die gleichen Wähler und Journalisten, die noch vor kurzem die heute regierenden Parteien empfohlen und angekreuzt haben, sind inzwischen genauso felsenfest überzeugt, dass es neue Leute braucht. Der Politiker ist auch Projektionsfläche, Spielball von Mehrheiten, die sich unter veränderten Umständen herausbilden. In wirtschaftlich guten Zeiten gewinnen die Linken und Grünen. In der Rezession kehren die Bürgerlichen zurück. Und so weiter. Die Demokratie ist die Staatsform der Alternativen.

Was aber, wenn man die Alternative nicht mehr wählen darf? Das wollen deutsche Politiker und Medien den deutschen Wählern einreden. Sie sind so verzweifelt, sie pfeifen dermassen aus dem letzten Loch, dass sie sich aus Mangel an überzeugenderen Argumenten für alternativlos erklären. Längst haben sie gemerkt, dass ihnen immer weniger Deutsche die Schauergeschichten und Verteufelungen abkaufen. Umso fiebriger denken sie darüber nach, die aufstrebende Opposition zu bestrafen, am besten zu verbieten, doch wie?

Aus Schweizer Sicht möchten wir den Deutschen sagen: Wenn eine Partei kriminell ist, muss man sie verbieten. Andernfalls muss man sie einbinden. Wir vermuten, dass es sich bei der AfD nicht um eine kriminelle Organisation handelt. Andernfalls wäre sie schon längst hinter Gitter. Doch in Deutschland, scheint es, müssen sich noch einige, die vor allem in den Medien den Ton angeben, an die Tatsache erst gewöhnen, dass eine Demokratie nicht davon lebt, dass alle gleicher Meinung sind («demokratischer Konsens»), sondern vom Ringen, vom Streit um bessere und andere Lösungen.

Doch letztlich sind auch diese Geburtswehen einer neuen politischen Vielfalt im wichtigsten EU-Staat eine gute Nachricht – wie die Klimakleber, die neuen Waffenanbeter oder die für immer mehr Menschen augenöffnenden Aussichten auf eine absurde Version des kalten Kriegs gegen Russland und China. Diese Vorgänge, über die sich manche aufregen, andere verzweifeln, sind hilfreiche Botschaften des Lebens. Unsere Irrtümer sprechen zu uns. Das ist schmerzhaft, aber heilsam, ernüchternd. Loben wir den Irrtum. Es gäbe keine Einsicht ohne ihn.

Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland. C. H. Beck. 720 S., Fr. 42.90.