Lassen Sie mich die erste Spalte des neuen Jahres mit einem kleinen Popkultur-Quiz eröffnen: «Das Einzige, was zählt im Leben, ist Sex. Ob ich bisexuell sei? Hahaha, das ist lustig. Sie fragen, wie wenn’s was Aussergewöhnliches wäre. Kennen Sie einen Mann meines Alters, irgendeinen Mann unter dreissig, der noch nie mit einem Jungen geschlafen hat? Nein, Sie kennen keinen. Weil es keinen gibt.» Wer hat’s gesagt? Und wann? Antworten: Egon Fürstenberg, und das Jahr war 1973.

Eduard Egon Peter Paul Giovanni Prinz von und zu Fürstenberg war ein Schweizer Modedesigner. Vor fünfzig Jahren war er verheiratet mit Diane von Fürstenberg, der Modedesignerin und späteren Ehefrau des Kabel- TV-Milliardärs Barry Diller; er kam 1946 in Lausanne zur Welt – sein Vater war Tassilo von Fürstenberg, ein österreichisch-ungarischer ehemaliger Adliger, seine Mutter, Clara Jeanne Agnelli, die Schwester des Fiat-Besitzers Gianni Agnelli, war reich. Egon starb 2004, mit 57, in Rom. Davor aber, kann man schreiben, hatte er gelebt, in den 1970er Jahren etwa in Manhattan, wo er und Diane sowohl zur feinen Gesellschaft als auch zu den Stammgästen des Studios 54 gehörten und mit ihrer Ehe beziehungsweise europäischen Lebensart die vornehmen Leute auf- sowie erregten (Quelle: New York Magazine). Die Todesursache, nebenbei erwähnt, ist unbekannt, in Nachrufen steht bloss, er sei «überraschend » verstorben.

Der wohl spannendste Schweizer Modedesigner, Pardon: «Prinz der Haute Couture », war nicht der Einzige mit diesem Verhalten/ Lebensentwurf, logisch, it takes two to tango, oder, besser, mehr, viel mehr. Die beiden grössten Stars der Zeit, Mick Jagger und David Bowie, waren vergleichbar unterwegs, angeblich auch miteinander. Einen Schlüssellochblick in die (nicht so) geheime Welt der polyamourösen 1970er Jahre ermöglicht Jann Wenners Biografie «Sticky Fingers» von Joe Hagan, Leserinnen und Leser erfahren darin unter vielem anderen, dass der Gründer des Rolling Stone-Magazins eine Affäre hatte mit Art Garfunkel, der einen Hälfte des Duos Simon and Garfunkel – und zwar zur selben Zeit, als die andere Hälfte, Paul Simon, mit Jane Wenner schlief, Jann Wenners Ehefrau und, später, Mutter seines Sohns.

Jetzt in die Gegenwart, oder wen dürfte man im Jahr 2023 noch fragen: «Sind Sie bisexuell?», in einem Interview für eine Zeitschrift? Mir fällt niemand ein. Und das nicht bloss, weil jede Kleinstberühmtheit, jeder Influencer et cetera, einen Public-Relations-Berater hat, der das Treffen sofort beenden würde. Sondern auch, weil polyamouröse Entwürfe heute für die meisten Männer und Frauen unter dreissig weit weg von ihrer Lebenswirklichkeit sind, wie man aus Untersuchungen weiss (die «Diversen » zeigen sich daran ebenso wenig interessiert, falls Befragungen ehrliche Antworten hervorbringen). Die Bedeutung, die früher Mitmenschen und besonders deren Unterleibern zuteilwurde, nehmen jetzt Smartphones ein – wer braucht noch Sex, wenn er eine App hat?

Und was ist darauf zu entgegnen, wenn als Gegenbeweis zahlreiche TV-Serien, in denen die handelnden Personen unter dreissig sowie sexuell kreuz und quer aktiv sind, herbeigeholt werden? Erstens: Drum ist’s ein Film (weil’s nicht der Realität entspricht). Zweitens: Streaming ist der zweitgrösste Zeitfresser, gleich nach den sogenannten sozialen Netzwerken. Oder – bitte entschuldigen Sie die Wiederholung – wer braucht noch Sex, wenn er Netflix hat? Ihnen sei zudem die Work-Life-Balance, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beruflichen Anforderungen und den Bedürfnissen des privaten Lebens, wichtig, sagen Mitglieder der Gen Z über sich. Worauf man als Aussenstehender darüber nachdenkt, was genau die zwischen 1990 und 2000 Geborenen unter Leben respektive privaten Bedürfnissen verstehen.

Es gibt den Ausdruck «Gnade der späten Geburt ». In diesem Zusammenhang trifft er nicht zu. «Wir dachten, wir hätten den Sex erfunden», sagte Egon Fürstenberg, «wir waren die Generation zwischen der Pille und Aids.» Sex sei bloss eine Form des Ausdrucks gewesen. Ich wünsche meinen Leserinnen und Lesern ein Jahr voll von beflügelten Ein- und Ausdrücken.