Es gibt Menschen, die nerven, weil sie recht haben. Wolf Schneider hat als gnadenloser Sprachlehrer Generationen von professionellen Schreibern in Angst versetzt, als Stilkritiker Hunderte von Angebern und Wichtigtuern entlarvt. Ihm einen Text vorzulegen, bedeutet für einen Autor die grösstmögliche Entblössung: Man weiss, er wird jeden Schwachpunkt finden und genüsslich herausstreichen.
Wolf Schneider hat über ein Dutzend Bücher zur Sprache geschrieben, er hat die berühmteste Journalistenschule Deutschlands geleitet, die Henri-Nannen-Schule, und ist mehrfach für seine Verdienste ausgezeichnet worden. Schneider ist ein Monument, ebenso gefürchtet wie verehrt.
Sein Schüler und Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer schrieb über ihn: «Er war schon politisch unkorrekt, als es noch nicht einmal ein Wort dafür gab.» Man müsste diesen Satz ergänzen um: «Er schrieb schon gegen die Gender-Sprache an, als dieser Anglizismus bei uns noch völlig unbekannt war.» Seit über zwanzig Jahren kämpft Schneider gegen den wörtlich praktizierten Feminismus, gegen das Binnen-I, gegen die Verhunzung der Sprache durch angeblich genderneutrale Konstruktionen wie «Studierende». Nun setzt er noch einen drauf: Mit einigen Mitstreitern des Vereins Deutsche Sprache hat er Anfang März unter dem Titel «Schluss mit dem Gender-Unfug!» einen «Aufruf zum Widerstand» verfasst, den innerhalb weniger Wochen 60 000 Personen unterzeichnet haben.
Wolf Schneider wohnt in Starnberg, einer der reichsten Gegenden Deutschlands, 25 Kilometer südwestlich von München. Seit zwei Wochen braucht der 93-Jährige einen Rollator. Er habe den Alkoholkonsum gesteigert, da ihm der Arzt erschreckend gesunde Organe bescheinigt habe, sagt er, als ihm seine Frau einen Wodka bringt. «Dass ich an meinen Knien verrecke, weil ich umfalle und nicht mehr gehen und schreiben kann, ist ein zu trauriger Tod. Ich möchte vorher an den Organen sterben.» Zum Glück gibt es fürs Rollatorfahren noch keine Promillegrenze.
Die Gelenke mögen streiken, sein Kopf aber funktioniert besser als bei manch einem Jugendlichen. Erst recht, wenn es um sein Lieblingsthema geht, die Sprache. «Für die Stellung der Frau in der Gesellschaft zu kämpfen, ist ein realistisches Anliegen», sagt er, «für die Stellung der Frau in der Sprache zu kämpfen, ist aber ein völlig unsinniger Ansatz.» Er nennt einige Beispiele. «Der Gast» könne ein Mann oder eine Frau sein, «die Geisel» ebenfalls. «Der Löwe», «die Schlange» und «das Pferd» seien alles Tierbezeichnungen ohne Hinweis auf das Geschlecht. «Der Dienstbote war meistens eine Frau. Die Schildwache war immer ein Mann.» Nun könne man den Satz bilden: «Er (der Dienstbote) schenkte ihr (der Schildwache) ein Kind, dem sie (die Schildwache) ein guter Vater war.» Die deutsche Grammatik sei nun mal so.
Der Begriff «weiblich» komme von «das Weib», einem sächlichen Begriff. «Die Behauptung, der sprachliche Ausdruck und das biologische Geschlecht hätten irgendeinen Zusammenhang, ist schon von Anfang an vollkommen falsch.»
Es gebe auch Fälle, in denen die Männer diskriminiert würden. «Beim Brautpaar kommen die Männer gar nicht vor, unter den Geschwistern auch nicht», sagt er. «Das mag man noch hingehen lassen, aber empörend ist geradezu: ‹Vor Taschendieben wird gewarnt.› Bitte vor -diebinnen auch, darauf bestehe ich!»
Die Sprache verändern zu wollen, sei töricht und «eine Wichtigtuerei ohne Fortschritt für die weibliche Sache». Mit allen, die das anders sehen, geht Schneider hart ins Gericht: «Jede Diktatur betreibt Sprachlenkung. Jetzt kommen die Feministinnen und wollen sie auch betreiben. Ja herzlichen Glückwunsch!» In der DDR sei es zum Beispiel verboten gewesen, in Zusammenhang mit dem Kapitalismus von «Gewinn» zu sprechen, man musste den negativ konnotierten Begriff «Profit» verwenden.
Wolf Schneider redet druckreif, unmissverständlich, glasklar. Seinen Schülern hat er stets eingebläut, dass Schreiben harte Arbeit bedeute: «Der Autor soll leiden, nicht der Leser.» Man müsse um die Leser werben, sie in den Text hineinziehen und dafür sorgen, dass sie unterwegs nicht aussteigen. «Zum perfekten Schreiben gehört, ein Bastler zu sein», sagt er. Kein Dichter sei je in der Nacht aufgewacht und habe auf die Schnelle einen genialen Einfall niedergeschrieben. «Goethe hat das behauptet, aber das war eine Lüge.»
Er selber schreibe seine Texte immer mehrfach um, bis sie druckreif sind. Von zentraler Bedeutung sei der Einstieg. Ein Churchill-Porträt habe er begonnen mit: «Wer sich ihn zum Vorbild nimmt, greift erstens ziemlich hoch und zweitens ziemlich daneben.» Einen Anfangssatz von Paul Krugman in der New York Times nennt er «den besten Einstieg aller Zeiten». Der Nobelpreisträger eröffnete einen Bericht über seinen China-Aufenthalt mit den Worten: «Ich habe die Zukunft gesehen, und sie wird nicht funktionieren.»
Ebenfalls aus der New York Times stammt der Anfangssatz eines Kommentars über die Kandidatur von Hillary Clinton: «Ehe ich zum Aber komme, lassen Sie mich versichern, dass Hillary Clinton eine vorzügliche Präsidentin sein würde.» Ein Satz mit einer überraschenden Wendung inklusive Seitenhieb, das ist tatsächlich hohe Kunst. Kann man das lernen? «Erst einmal braucht es den Willen, dies zu tun. Schon der ist bei den meisten professionellen Schreibern nicht vorhanden», sagt Schneider.
Wenn Schneider nervt, dann nicht nur, weil er einem mit seinen brillanten Sprachanalysen stets das eigene Unvermögen vor Augen hält, sondern auch, weil er dies mit einer beneidenswerten Selbstsicherheit tut. Bescheidenheit ist nicht seine Sache. «Ich war rhetorisch fast allen überlegen», sagt er. Jetzt aber lehne er alle Einladungen zu Fernseh-Talkshows ab, weil er sich ab und zu verspreche. Das Wort «Überlegenheit» spricht er im Verlauf des Gesprächs mehrmals aus – und es fällt einem kaum etwas ein, womit man ihm widersprechen könnte. Auf den Hinweis, er erweise mit dieser Haltung und seinem dandyhaften Auftreten dem in Verruf geratenen alten weissen Mann alle Ehre, antwortet er gelassen: «Nennen Sie mir eine junge schwarze Frau, die mir rhetorisch das Wasser reichen kann.»
Womit wir wieder beim politisch Korrekten sind. Dass man den Begriff «Neger» ersetzt habe durch «Schwarze», hält er für skandalös. «1775 hat der Anthropologe Friedrich Blumenbach die Menschheit in fünf Rassen und fünf Farben eingeteilt. Das war eine rassistische Zuteilung», sagt Schneider. Als er 1965 in den USA war, sei «black» noch ein Schimpfwort gewesen, «negro» und «colored» die anerkannten Bezeichnungen. «Die Extremisten der Black-Panther-Bewegung haben sich dann selbst als ‹black› bezeichnet. Wir haben dann in unserem deutschen Übereifer diesen rassistischen Begriff übernommen.» Zu allem Übel sei die Farbbezeichnung auch eine Ohrfeige fürs Auge. «Obama ist nicht schwarz, sondern milchkaffeebraun.» Dass sich «schwarz» in unseren Breitengraden durchgesetzt habe, sei «ein siebenfacher Wahnsinn». Aber auch er getraue sich nicht mehr, «Neger» zu sagen. «Ich kann ja nicht jedes Mal diese Erklärung anhängen.»
Wenn er heute die Zeitung aufschlägt, was stört ihn am meisten? «Der Siegeszug von pompösen Modewörtern, mit denen man dem ungebildeten Leser mitteilen will, was man alles kann.» Umgehend nennt er ein Beispiel: «Paradigmenwechsel. 90 Prozent der Leute wissen nicht, was ein Paradigma ist, und 99 Prozent, mich eingeschlossen, wissen nicht, weshalb eine Richtungsänderung oder ein Schwenk ein Paradigmenwechsel sein soll.» Trotzdem stosse man ständig auf das Wort. Weitere Beispiele seien «Narrativ» oder «Tonalität». «Weshalb sagt man nicht einfach ‹der Ton› oder ‹die Tonlage›? ‹Tonalität› ist reine Angeberei.»
Als das Aufnahmegerät abgeschaltet ist, verlassen wir Schneiders Anwesen und fahren zu einem Restaurant direkt am Starnberger See. Der Sprachlehrer ist noch unsicher mit seinem neuen Rollator. «Damit stelle ich eine Behinderung zur Schau, das ist mir unangenehm.»
Schneider ist nicht nur ein geistreicher und vergnüglicher Gesprächspartner, wenn es um Stil und Sprache geht, er hat auch sonst viel zu erzählen. Zum Beispiel über seine Jugend im Krieg. Er hat nie verheimlicht, dass er Hitler zujubelte. «Jeder 15-Jährige ist voller Stolz, wenn das eigene Land eine Schlacht gewinnt. Das war bei mir nicht anders.» Mit dieser Ehrlichkeit ist er eine Ausnahmeerscheinung in einem Land, in dem plötzlich alle Hitler-Gegner gewesen sein wollen. In seiner Autobiografie («Hottentottenstottertrottel: Mein langes, wunderliches Leben») schildert er, wie sehr er sich als deutscher Unteroffizier bei Kriegsende vor der Vergeltung der Sieger fürchtete. Er habe sogar in Erwägung gezogen, sich zu erschiessen. «Ein Volk, das in seiner Mehrheit einen Krieg zu verlieren wünscht, ist noch nicht erfunden.»
Von der Judenvernichtung habe er nichts gewusst, auch bei den «Feindsendern», die er jeweils illegal abgehört hatte, sei darüber geschwiegen worden. Im Buch widmet er dem Thema mehrere Seiten. Und er zitiert einen Satz aus den Memoiren des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, dem es offenbar ähnlich ergangen war wie ihm: «Den Deutschen fehlte nicht nur die Information, sondern es überstieg einfach ihre Vorstellungskraft, dass so etwas Ungeheuerliches hatte geschehen können.»
Schneider schreibt noch immer jeden Text von Hand, seine Frau tippt ihn dann am Computer ab. Solange sein rechtes Handgelenk es zulässt, will er weiterschreiben. Zurzeit verfasst er eine Streitschrift über die Zerstörung der Erde: ein kurzes Büchlein nach dem Vorbild von Stéphane Hessels Weltbestseller «Empört euch!». Thema ist das Bevölkerungswachstum in Afrika, das Europa ins Unglück führen wird, aber auch der Unsinn, Autos mit 455 PS auszustatten. «Mit unserem 27-PS-Käfer waren wir genauso glücklich», sagt er. Wenn er ein Grüner wäre, würde er solche Autos verbieten. «Aber das getrauen die sich nicht.» Er sieht wenig Hoffnung für unseren Planeten.
Es ist eine überraschende, bisher wenig bekannte Seite von Wolf Schneider. Aber eine, die ihn erst recht interessant macht: Mit der Publikation dieses Büchleins werden sich auch Leute über ihn nerven, die ihn bisher bewundert haben – was durchaus beabsichtigt ist.