Hin und wieder kommen aus Russland auch gute Nachrichten – zum Beispiel, wenn es um den Amurtiger geht. Die grösste aller wilden Katzen schleicht sich seit einiger Zeit Pfote für Pfote weg vom Rand der Ausrottung.

Vor etwa dreissig Jahren sah es noch so aus, als wären die Tage des Amurtigers gezählt. Grosse Waldgebiete – Tigerlebensraum – wurden abgeholzt, gleichzeitig blühte die Wilderei wie nie zuvor. Die Beutetiere wurden dezimiert, die Tiger endeten als Bestandteil angeblich wundertätiger Pulver und Tinkturen auf dem chinesischen Markt. Viele Artenschützer hätten wohl Anfang des Jahrhunderts keinen Pfifferling mehr auf das Überleben der grossen Katzen gewettet.

Russland, Korea, China

Doch manchmal ist es schön, wenn man nicht recht behält. Im Jahr 2010 – nach der chinesischen Astrologie das Jahr des Tigers – kündigte sich für den Amurtiger und die anderen fünf Unterarten die Wende an: In St. Petersburg hatten sich alle dreizehn Tigerländer zum «Global Tiger Summit» versammelt. Sie erarbeiteten Schutzstrategien und setzten sich ein ehrgeiziges Ziel: Bis 2022 – das nächste Jahr des Tigers – sollte sich die Zahl aller freilebenden Tiger verdoppelt haben.

Etwa sechzig bis siebzig Beutetiere braucht ein Amurtiger pro Jahr – 600 bis 700 Jagdversuche.

Ob Russland, Korea und China, die Heimatländer des Amurtigers, ihr Ziel ganz erreicht haben, ist noch nicht geklärt. Noch ist der Tigerzensus nicht abgeschlossen, aber erste Ergebnisse machen Mut. Durch die menschenleeren Wälder im fernen Osten Russlands ziehen wieder etwa 580 Sibirische Tiger, und etwa zehn Tiere sind ins nordöstliche China eingewandert.

Apropos Zensus: Wie zählt man Amurtiger überhaupt? Immerhin durchstreift ein Tigermännchen bis zu 1300 Quadratkilometer Wald, und auch die weniger mobilen Weibchen bringen es bis auf 400 Quadratkilometer. Des Artenschützers Lösung: Man arbeitet bei geschlossener Schneedecke. Anhand der Spuren lässt sich immerhin sagen, wo Tiger unterwegs waren, und die Grösse der Abdrücke verrät, ob da ein Weibchen entlanggelaufen ist, ein Jungtier oder ein Männchen, dessen Prankenabdrücke die respekteinflössende Grösse von Untertassen haben können.

An erfolgversprechenden Stellen, dort, wo die grossen Katzen mittels Urinspritzern, Duftsekret und Krallenspuren eine Art Nachrichtenbörse für Artgenossen unterhalten, werden ausserdem Wildkameras aufgestellt. Im Idealfall lässt sich später aus den Aufnahmen ein regelrechtes Who’s who der Tiger-Society erstellen, denn das Streifenmuster sieht bei jedem Tier ein wenig anders aus und ist so unverwechselbar wie der Fingerabdruck beim Menschen.

Dieses markante Tigermuster ist im Wald, wo Licht und Schatten ständig wechseln, übrigens alles andere als auffällig: Es wird zur perfekten Tarnung. Ein Tiger auf der Jagd ist nicht zuletzt dank seines Outfits fast unsichtbar. Lautlos und überlegt setzt er die Pranken auf, unentwegt überprüft er die Umgebung. Alle Sinne sind hellwach, bei jedem Geräusch hält er in der Bewegung inne, lauscht, späht, versucht Witterung aufzunehmen. Hat er die Beute im Blick, werden die zuvor schon bedächtigen Bewegungen zeitlupenhaft langsam, der Körper sinkt unmerklich tiefer, bis der Bauch fast die Schneedecke berührt. Unaufhaltsam schiebt er sich vorwärts, die Augen fest auf die Hirschkuh, das Reh oder Wildschwein gerichtet. Ist er nahe genug herangekommen und ist alles «richtig», explodiert er urplötzlich in einen rasanten Sprint. Sein Gewicht – Männchen werden über 300 Kilogramm schwer – bringt die Beute sofort aus dem Tritt, ein Biss ins Genick beendet den kurzen Kampf.

Temperaturen bis minus 45 Grad

Doch eine Jagd kann auch ganz anders ausgehen. Beutetiere haben ebenfalls scharfe Sinne, sind jederzeit auf alles gefasst und reagieren blitzschnell. In neun von zehn Fällen bemerken Hirsch oder Schwein den Tiger noch rechtzeitig und machen sich unbehelligt davon. Etwa sechzig bis siebzig Beutetiere braucht ein Amurtiger pro Jahr. Das bedeutet 600 bis 700 Jagdversuche – in tiefem Schnee und bei Temperaturen von bis zu minus 45 Grad. Nur wo die Beutedichte genügend hoch und die arteigene Konkurrenz hinreichend wenig ist, können Amurtiger langfristig leben.

Man kann ein ganzes Menschenleben im Tigerland verbringen, ohne ein einziges Mal einen Tiger zu Gesicht zu bekommen – und das ist gut so. Wenn aber Tiger in mageren Jahren oder Jungtiere auf Reviersuche gegen ihre Natur die Nähe des Menschen aufsuchen, wenn sie womöglich die Erfahrung machen, dass «Hund-an-der-Kette» auch nicht schlecht schmeckt und zudem leichter zu erbeuten ist als wachsame, schnelle Hirsche, ist schnelles Eingreifen gefragt. Tiger und Menschen müssen getrennte Wege gehen. Nur dann werden die faszinierenden Katzen eines hoffentlich nicht zu fernen Tages verschwinden – von der Roten Liste der gefährdeten Tierarten.