Die wichtigste PR-Botschaft der Moskauer Militärparade am «Tag des Sieges» 2022: Zum ersten Mal fand sie ohne ausländische Staatsgäste statt. Die ehemaligen Alliierten waren schon 2014 ferngeblieben; 2015 gehörte die Bühne dann dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Neben einem siegreichen Putin hätte er vielleicht auch 2022 gestanden, doch zu Losern geht Xi auf Distanz. War Putins Einsamkeit auf dem Roten Platz also ein Zeichen gekränkter Ehre (wenn kein Xi, dann auch kein anderer)? Oder ein Zeichen der Entschlossenheit nach Art des Wilhelm Tell: «Der Starke ist am mächtigsten allein»?

Die Gesichter, nicht zuletzt das des Präsidenten, spiegelten den Ernst der Lage, zugleich eine Mischung aus Scham und Trotz. Seit Kriegsbeginn wirkt Putin gedrungener, so, als zöge er den Kopf zwischen die Schultern. Schwäche oder Angriffslust? Mehr und mehr wird er zur Sphinx. 2022 erlebt die Welt ihn erstmals mit dem Rücken an der Wand, buchstäblich in die Ecke gedrängt. Schon im Alter von nicht einmal zehn Jahren war er fest entschlossen, sich damit niemals abzufinden.

Gefühl akuter, kollektiver Bedrohung

Seine Ansprache klang manchen matt und inhaltsleer: keine Generalmobilmachung, keine Kriegserklärung, kein Hinweis auf Entnazifizierung und Entmilitarisierung. Den missratenen Angriffskrieg legitimiert er mit der Verteidigung russischer Erde und russischer Menschen. Im Übrigen Ausflüge in die Vergangenheit bis hin zu den Nationalhelden Minin und Poscharski. Putin spielt mit einem Leitmotiv, das in Russland stets Widerhall findet: der Westen gegen uns. Die Sanktionen und die Isolierung durch die USA und ihre Verbündeten, die Waffenlieferungen an die Ukraine, Russophobie im Ausland, die Solidarisierung mit den Kiewer Kriegszielen (Rückeroberung des Donbass und der Krim, Regimewechsel in Moskau) – angesichts der unleugbaren militärischen Schwäche im Ukraine-Krieg entsteht daraus ein wirkmächtiges Gefühl akuter, kollektiver Bedrohung.

Nicht umsonst klangen Putins Worte beschwörend und defensiv zugleich, ein Zeugnis schwieriger Lage. Interessant ist, bei wem er Anleihen nimmt: Stalins Rede vom 7. November 1941 am gleichen Ort. Die unaufhaltsamen Horden der deutschen Wehrmacht keine hundert Kilometer vor der Stadt, die Eroberung Moskaus ein realistisches Szenario, präsentierte der Führer des Weltproletariats dieselben Minin und Poscharski als ewige Zeugen russischer Resilienz. In beiden Reden wirkt die Siegeszuversicht aufgesetzt, illegitim angesichts der realen Verhältnisse. 1941 war es die Opferbereitschaft des russischen Volks, die das Kriegsglück schliesslich doch gewendet hat.

Wer den Schlachtruf nach Putins Rede hört, das zweifache, donnernde «Urra» der angetretenen Soldaten, wird Russland in seiner Auseinandersetzung mit dem Westen (und wenn es ein Kampf gegen Windmühlen ist) auch heute nicht abschreiben.