Der Stapel Briefe ist so dick, dass ihn Sherry Weidmann kaum mit einer Hand festhalten kann. Weidmann ist Immobilienunternehmer und steht in seinem Büro in Zürich Wipkingen. Absender der Briefe ist die Schlichtungsbehörde Zürich, zuständig für Mietstreitigkeiten. In den rund achtzig fast identischen Schreiben teilt die Schlichtungsbehörde Weidmann mit, dass gegen ihn – und nicht etwa ­gegen die Firma, die er zusammen mit einem Partner betreibt – ein Verfahren eingeleitet worden sei. Genau genommen, sind es pro Mietpartei sogar gleich mehrere Verfahren. Insgesamt geht es um gegen 400 Klagepunkte.

Der Hintergrund der Briefflut: Weidmann hatte seinen Mietern ordentlich auf Ende ­Fe­bruar gekündigt. Dagegen ging der Rechts­anwalt Peter Nideröst, tätig in der linken ­Advokatur Gartenhof, Mitglied der Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz, vor. Nider­öst gelange an die «sehr geehrten Damen und Herren Schlichterinnnen und Schlichter» mit dem Begehren, die Kündigung sei für un­gültig zu erklären. Zudem sei der ­Anfangsmietzins herabzusetzen, und das Mietverhältnis sei zu erstrecken.

Der Haken an der ganzen Sache: Der um­triebige Anwalt hatte die meisten Mieter ­weder gefragt noch informiert, geschweige denn von ihnen eine Vollmacht oder ein Mandat erhalten. Dies bestätigen mehrere Mieter gegenüber der Weltwoche. Unserem Magazin liegen überdies Dokumente vor, in denen sich die Mieter gegen das aus ihrer Sicht anmassende und eigenmächtige Vorgehen des Anwalts wehren.

«Jemand missbraucht meinen Namen»

So schreibt einer der Mieter an die Schlichtungsbehörde, dass er «weder einen Auftrag noch eine Vollmacht oder ähnliches» an Anwalt Nideröst betreffend diese Angelegenheit ausgestellt habe und «auch nie ausstellen» werde. Er finde es «eine Frechheit», durch ­einen Dritten erfahren zu müssen, dass eine Klage in seinem Namen eingereicht worden sei, ohne dass er etwas davon gewusst habe. Er beantrage, die Klage von Nideröst abzu­weisen. «Jemand missbraucht meinen Namen», teilt ein anderer Mieter schriftlich mit. Er überlege sich, ob er Anzeige erstatten solle.

Eine dritte Mieterin schreibt, sie habe Herrn Rechtsanwalt Nideröst damit beauftragt, «die hängige Klage bei der Schlichtungsbehörde gegen Herrn Sherry Weidmann zurückzu­ziehen», da sie «diese Klage nie gewünscht und auch keine entsprechende Vollmacht aus­gestellt» habe.

Ein vierter Mieter, der sich darüber wundert, ungefragt von einem Anwalt vertreten zu werden, den er nicht kennt, ist José Mendes Lopes. «Ich habe überhaupt nichts davon gewusst», sagt Mendes Lopes gegenüber der Weltwoche. Er heisse die Klage des Anwalts in seinem ­Namen nicht gut. Auf die Frage, was er vom Vorgehen von Nideröst halte, sagt Mendes Lopes: «Ich kann mich selber wehren, wenn ich das will.» Dass jemand in seinem Namen klage, ohne mit ihm auch nur darüber gesprochen zu haben, sei «unverschämt». Vermieter Weidmann habe ihn immer korrekt behandelt und ihm in verschiedenen Angelegenheiten geholfen, so Mendes Lopes. Gegen die Kündigung habe er nichts einzuwenden.

Klagen im Namen von Phantom-Mietern

Der merkwürdige Fall gipfelt in der Tatsache, dass Rechtsanwalt Nideröst auch Klagen im Namen von Mietern einreichte, die seit mehreren Monaten nicht mehr in der Liegenschaft an der Dammstrasse wohnen, deren Mietverhältnis zum Zeitpunkt der Einreichung der Klage also gar nicht mehr bestand. Eine weitere Mieterin lag bei der Einreichung der Klage im Koma und verstarb wenige Tage darauf.

Was geht hier vor? Der Schlüssel zum Verständnis der sonderbaren Vorgänge liegt bei der Stadt Zürich, genauer bei deren Sozial­departement, das unter der Leitung von ­Raphael Golta (SP) steht. Bei den Mietern in Wipkingen – sowie den Bewohnern bei einer weiteren Liegenschaft der Firma, bei denen sich exakt das­selbe Muster zeigte – handelt es sich überwiegend um Sozialhilfebezüger. Steckt also das Sozialdepartement hinter den heimlichen Massenklagen? Haben Goltas ­Beamte die Daten der Mieter an Anwalt Peter Nideröst weitergegeben? Haben sie ihm den Auftrag für die Klagen erteilt?

Diese Vermutung liegt nahe, da ja die meisten Mieter gemäss eigenem, schriftlich dokumentiertem Bekunden den Anwalt nicht engagiert haben. Dieser muss folglich von dritter Seite informiert und angeheuert worden sein, wobei der Vermieter dafür natürlich nicht in Frage kommt. Ein weiteres Indiz für diese ­Vermutung: Peter Nideröst vertritt die Stadt Zürich auch in anderen Rechtshändeln; er ist offenbar so etwas wie ein Vertrauensanwalt der Stadt. Die Weltwoche stellte dem Sozial­departement in diesem Zusammenhang folgende drei Fragen: «Hat das Sozialamt der Stadt Zürich Anwalt Peter Nideröst beauftragt, in der erwähnten Sache tätig zu werden? Falls ja: Was kostet der Einsatz des Anwaltes die Stadt? Finden Sie es richtig, dass über den Kopf der Mieter hinweg – ohne sie zu fragen und ohne ein entsprechendes Mandat erhalten zu haben – juristische Verfahren im Namen der Mieter geführt werden?»

Stadt im Häuserkampf

Das Sozialdepartement bestätigt die Recherchen der Weltwoche in einer schriftlichen ­Stellungnahme. «Herr Nideröst wurde durch die Stadt Zürich beauftragt, die in den betroffenen Liegenschaften wohnhaften Sozial­hilfebezügerInnen darin zu unterstützen, die ­ausgesprochenen Kündigungen ihrer Mietverhältnisse vor der Schlichtungsstelle anzufechten», so das Sozialamt. Über die ­Höhe des Betrags, den der externe Anwalt die Steuer­zahler kostet, machen die Verantwortlichen nur vage Angaben: Sie erfolgten zum «üblichen Tarif» und würden «nach Aufwand» ver­rechnet. Zur Frage schliesslich, ob es die Stadt Zürich für richtig halte, über die Köpfe der ­Betroffenen hinweg Verfahren in deren ­Namen zu führen, verweisen sie auf die Kündigungsfrist «von nur einem Monat». Innert dieser Frist sei es für die Mieter kaum möglich, eine neue Wohnung zu finden. «Das ­Interesse der Stadt ist es, zu verhindern, dass eine grosse Zahl unserer KlientInnen zum gleichen Zeitpunkt ohne Anschlusslösung auf die Unterbringung in (betreuten) Wohnangeboten der Stadt angewiesen ist.» Peter Nideröst antwortete nicht auf die Fragen der Weltwoche.

Allerdings stiessen die eifrigen Stadtbehörden bei den betroffenen, angeblich hilflosen ­Mietern nicht nur auf wenig Gegenliebe, ihre Aktion verlief auch weitgehend erfolglos. Stand bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe: Nachdem sich viele Mieter bei der Schlichtungsbehörde gemeldet und verlangt hatten, die von Nideröst in ihrem Namen eingereichten Begehren seien zurückzuziehen, wurden die Verfahren abgeschrieben, das heisst per sofort eingestellt. Ausser Spesen nichts gewesen.

Was bleibt, ist der Aufwand, der ziemlich ins Geld geht und den weder Anwalt Nideröst noch die Beamten des Sozialdepartements aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Die Kosten ­gehen voll zu Lasten der Steuerzahler. Jeder der zahllosen Briefe – eingeschrieben, Gerichtspost – kostet über zehn Franken. Geht man, vorsichtig geschätzt, davon aus, dass der Anwalt pro Fall zwei Stunden Arbeit aufwendete, und nimmt man dafür den vergleichsweise günstigen Amtstarif von 250 Franken, kommt man bei einer Anzahl von 120 Fällen – verteilt auf beide betroffenen Liegenschaften – auf einen Betrag von 60 000 Franken. Hinzu kommt die Arbeit der verschiedenen Amts­stellen. Grob geschätzt, könnte der ganze Leerlauf die Steuerzahler so alles in allem gegen 100 000 Franken kosten.

Weniger Sozialwohnungen

Eine andere Frage ist, welcher Aufwand und welche Kosten beim Vermieter entstanden sind, vom Ärger und der beunruhigenden Aussicht auf eine möglicherweise längere ­juristische Auseinandersetzung nicht zu ­reden. Er habe sich wochenlang mit der An­gelegenheit beschäftigen müssen, sagt Sherry Weidmann. Zum Glück sei er selber Jurist und wisse sich zu wehren. Für kleine Firmen, die nicht über juristisches Know-how und die ­nötigen Ressourcen verfügten, könne eine solche Aktion aber durchaus bedrohlich ­werden.

Über die tieferliegenden Motive der Stadt Zürich kann man nur spekulieren. Will sie mit diesen moralisch grenzwertigen Methoden Mietpreispolitik machen? Benützt das Sozialamt die Fürsorgebezüger als Manipulier­masse, um gegen unliebsame Unternehmer wie Weidmann vorzugehen? Sicher ist jedenfalls: Falls die Stadt das Ziel verfolgt haben sollte, günstigen Wohnraum für ihre «Klienten» zu erstreiten, dann ging der Schuss nach hinten los. Die Studios in Zentrumsnähe ­kosten zwischen 1100 und 1300 Franken pro Monat. Das sei ortsüblich, sagt Vermieter Weidmann. Doch nun habe er genug, er ver­folge mit den beiden Liegenschaften in Zukunft andere ­Projekte. Damit stehe den Sozialhilfebezügern nicht mehr, sondern weniger Wohnraum zu Verfügung.