In Zeiten von politischer Korrektheit und Hypersensibilität entsteht leicht der Eindruck, dass sich politisch linksgerichtete Zeitgenossen in Gesellschaftsfragen häufiger empören, sensibler sind als alle anderen. Ja, Linke prangern kleinste sprachliche Patzer an, als handle es sich um Kapitalverbrechen. Aber auch Liberale und Konservative wehren sich, wenn die «Tagesschau» in einem Online-Beitrag von «gebärenden Menschen» statt von Müttern spricht. Im Grossen und Ganzen aber sind verletzte Gefühle unter den Linken, so mein Eindruck, weit häufiger verbreitet. Unter anderem manifestiert sich das darin, dass sie deutlich mehr Gefallen finden an der Unterdrückung von Sprache oder von Meinungen, die ihnen missfallen oder von denen eine Gefahr ausgehen könnte. Entrüstung, Wut und Angst sind mit mentaler Gesundheit verwoben. Schlagen Linken Dinge mehr auf die Psyche, und könnte das ihre Erregbarkeit ein Stück weit erklären?

In dem Gastbeitrag «Warum die psychische Gesundheit progressiver Mädchen zuerst und am schnellsten gesunken ist» (publiziert bei «The Free Press») stellt der Psychologe Jonathan Haidt mehrere amerikanische Studien vor, die herausgefunden haben, dass weibliche progressive Jugendliche von psychischen Krankheiten am meisten betroffen sind.

Ja, Linke prangern kleinste sprachliche Patzer an, als handle es sich um Kapitalverbrechen.

Eine Studie hatte während des Covid-Lockdowns 2020 drei Gruppen – Konservative, Moderate und Progressive – gefragt: «Hat ein Arzt ihnen je gesagt, dass Sie an einer psychischen Erkrankung leiden?» Die Gruppe junger, linker Frauen gab mit Abstand die meisten Ja-Antworten. Nicht nur das, auch die meisten von ihnen bejahten die Frage. In einer anderen Untersuchung wurden konservative und progressive Jugendliche über «Stimmung und Depression» befragt. Während vor 2012 keine Geschlechterunterschiede festzustellen waren, stieg ab 2012 die Anzahl Depressionen unter linken weiblichen Teenagern am schnellsten an – und so hoch wie bei keiner anderen Gruppe.

Wissenschaftler um Haidt sind sich einig, dass die sozialen Medien, deren globaler Siegeszug etwa 2012 begann, für den Anstieg verantwortlich sind. Dass übermässige Nutzung von Social Media einen negativen Impact auf die mentale Gesundheit von jungen Menschen haben kann, ist uns ja bekannt. Neu ist, dass Personen aus konträren politischen Spektren offenbar unterschiedlich betroffen sind.

Die ganze Generation Z (Personen zwischen 1997 und 2012 geboren) sei nach 2012 ängstlicher und depressiver geworden, so Haidt. Er erklärt es damit, dass viele von ihnen «Unwahrheiten absorbiert» hätten, wie etwa zu glauben, dass sie fragil seien und vor Büchern, Rednern und Worten geschützt werden müssten. Oder zu denken, die Gesellschaft bestünde aus Opfern und Unterdrückern. Dies führe zu «verzerrten Denkweisen»; Progressive hätten diese Überzeugungen mehr aufgenommen als Konservative – und junge, linksgerichtete Frauen aufgrund ihrer stärkeren Nutzung sozialer Medien noch viel mehr als alle anderen.

Ich halte das für plausibel, zumal in den sozialen Medien Undifferenziertheit und Überdramatisieren belohnt und gefördert werden. Natürlich prägen sich solche Denkmuster ins Hirn ein. Vielleicht ist das ja tatsächlich eine Erklärung, warum Linksliberale heute oft gereizter und empfindlicher wahrgenommen werden als Liberale und Konservative. Und wer ständig darüber nachdenkt, warum Dinge nicht richtig sind, immerzu auf der Suche nach Verbesserungen ist, anstatt das zu geniessen, was er hat: Diese permanente Betroffenheit kann einem Wohlbefinden empfindlich zusetzen. Man sieht es etwa angesichts der jungen Aktivisten, die sich, von Angst getrieben, in maximaler Eskalation an Strassen festkleben.

Je zufriedener man im Augenblick ist, je weniger Ablenkung alle möglichen Probleme verursachen, desto mehr wirkt es sich auf das mentale Wohlbefinden aus. Man kann es ihnen aber nicht verübeln, wenn sie es in ihrer Verantwortung sehen, gefühlte oder tatsächliche Missstände zu beheben. Indem die Erwachsenen oftmals selbst überdramatisieren, Speaker ausladen, Worte verbannen, hypererregt und dauerempört durch soziale Medien pilgern, geben sie ihnen erst das Gefühl, in der Verantwortung zu stehen. Den Impact, den das eigene Verhalten auf junge Menschen hat, sollte man besser nicht unterschätzen.