Stell dir vor, die Welt geht unter, und kein Mensch merkt es. Kann gut sein. Immerhin steht uns die vorausgesagte Klimaapokalypse schon bald ins Haus, wenn wir die symbolische Grenze von 1,5 Grad Erderwärmung überschreiten. Sechs Jahre und 188 Tage – so wenig Zeit bleibt der Menschheit noch, um das Überschreiten der 1,5-Grad-Schwelle und damit eine irreversible Weltkatastrophe zu verhindern. Mit einer auf den Tag genau eingestellten Klimauhr konfrontierte eine Schweizer Klimaaktivistin Ende Januar Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos.

Was aber passiert, wenn die prophezeite Katastrophe dann ausbleibt?

Die berühmte 1,5-Grad-Schwelle der Erwärmung wurde im Pariser Klimaabkommen von 2015 festgelegt. Die globale Temperatur soll nicht stärker über das vorindustrielle Niveau – um 1870 herum – steigen. Darauf hat sich die internationale Gemeinschaft geeinigt, um den Klimawandel zu begrenzen.

Apathie oder Wut

In den Augen vieler Klimaaktivisten ist die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zum entscheidenden Massstab für den Erfolg ihrer Kampagne geworden – auch wenn zahlreiche Wissenschaftler privat davor warnen, dass das Ziel nicht mehr erfüllbar sei. Viele Aktivisten geben nur ungern zu, dass die 1,5-Grad-Grenze aussichtslos geworden ist. Klimapropheten, die seit Jahren eine globale Klimakalamität für das Jahr 2030 verkündet haben, fürchten indessen, dass die einen mit Apathie, die andern wütend reagieren könnten, sollte die prophezeite Katastrophe ausbleiben.

Was steckt eigentlich hinter dem Getue um diese Zahl? In einem Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel warnte der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) im Jahr 2018, die Menschheit habe nur noch zwölf Jahre, um eine Klimakatastrophe zu verhindern und die globale Erwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Der IPCC-Bericht erklärte, die weltweiten Kohlendioxidemissionen müssten bis 2050 auf netto null gesenkt werden, und damit das 1,5-Grad-Ziel nicht überschritten werde, müssten die globalen CO2-Emissionen bis zirka 2030 um etwa 45 Prozent zurückgehen. Auf dieser Berechnung basiert die weitverbreitete Behauptung, die Menschheit habe «noch zwölf Jahre, um die Welt zu retten».

Mit diesem Sonderbericht des Weltklimarats gewann die 1,5-Grad-Schwelle eine gewaltige Eigendynamik in der internationalen Klimapolitik und unter Klimaaktivisten. Keine Wunder also, dass grüne Gruppen neue Organisationen und Bewegungen ins Leben riefen, wie etwa Extinction Rebellion und «Letzte Generation», die das Ziel vertreten, den Untergang zu verhindern.

In einer dramatischen Rede vor dem britischen Unterhaus im Jahr 2019 prophezeite ein sechzehnjähriges Mädchen den Zusammenbruch der globalen Zivilisation – und zwar auf die Stunde genau: «Um das Jahr 2030, in zehn Jahren, 252 Tagen und zehn Stunden, werden wir uns in einer Situation befinden, in der wir eine unumkehrbare Kettenreaktion auslösen werden, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht und höchstwahrscheinlich zum Ende unserer Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird.»

«Doomsday Clock»

Dabei unterstrich Greta Thunberg, die schwedische Kinderprophetin, dass es sich bei dieser Vorhersage nicht um ihre persönliche Vermutung, sondern um einen globalen, wissenschaftlichen Konsens handle: «Diese Projektionen», so Thunberg, «werden durch wissenschaftliche Fakten untermauert, die von allen Nationen und dem Weltklimarat IPCC geteilt werden. Nahezu alle grossen nationalen wissenschaftlichen Institutionen auf der ganzen Welt unterstützen vorbehaltlos die Arbeit und die Erkenntnisse des IPCC.»

Mit dem Sonderbericht von 2018 gewann die 1,5-Grad-Schwelle eine gewaltige Eigendynamik.

«Wir sind die letzte Generation, die den Kollaps unserer Gesellschaft noch aufhalten kann.» Das glauben auch die Untergangspropheten der «Letzten Generation». In wenigen Jahren schon werde der Emissionsspielraum bis zur Erreichung der 1,5-Grad-Schwelle aufgebraucht und damit ein Kipppunkt erreicht sein, der eine globale Katastrophe auslösen werde.

Derartige Weltuntergangsstimmungen sind freilich nicht auf apokalyptische Klimaaktivisten beschränkt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, warnte wiederholt vor einem «kollektiven Selbstmord der Menschheit», während der britische Premier Boris Johnson beim Uno-Klimagipfel in Glasgow 2021 erklärte, es sei «eine Minute vor Mitternacht auf der Weltuntergangsuhr».

Da die globale Durchschnittstemperatur seit der vorindustriellen Zeit bereits um etwa 1,2 Grad Celsius gestiegen ist, fehlen mithin nur noch 0,3 Grad bis zur gefürchteten Grenze. In Anlehnung an die umstrittene Weltuntergangsuhr amerikanischer Atomwissenschaftler («Doomsday Clock») gibt es mittlerweile in vielen Ländern Klimauhren, die genauestens anzeigen, wie viel CO2 noch in die Atmosphäre geblasen werden darf – quasi als Budget –, will man die globale Erwärmung auf 1,5 Grad oder beziehungsweise auf zwei Grad begrenzen. Basierend auf den vom Weltklimarat vorgelegten Berechnungen des verbleibenden CO2-Budgets, hat die Menschheit derzeit noch einen Haushalt von ungefähr 272 Gigatonnen CO2 verfügbar, das in die Atmosphäre abgegeben werden kann. Und da der Jahresausstoss globaler CO2-Emissionen heute schätzungsweise etwa 42 Gigatonnen beträgt, bleiben der Welt bei gleichbleibendem Ausstoss etwas mehr als sechs Jahre, bis das Budget für das 1,5-Grad-Ziel erschöpft ist.

Nun ist es allerdings so, dass die globale Temperatur in den vergangenen sechs bis sieben Jahren kaum merklich gestiegen ist. So bleibt derzeit offen, ob der Verbrauch des verbleibenden CO2-Budgets tatsächlich den dramatischen Anstieg um 0,3 Grad Celsius erzeugen wird oder nicht.

Neu rechnen für neue Panik

Damit zurück zur Frage: Was passiert, sollte die Temperaturgrenze einfach so überschritten werden? Professor Myles Allen von der Universität Oxford fürchtet bereits starke Gegenreaktionen. «Ein weiteres Viertelgrad Erwärmung wird sich für die Steuerzahler von 2030 nicht wie Armageddon anfühlen. Und was werden sie dann denken?» Andere sagen: Ein Plus von 1,6 Grad werde sich nicht so anfühlen, als sei eine Schwelle überschritten, da es eine solche in Wirklichkeit gar nicht gebe.

Klimawissenschaftler und -aktivisten befürchten, dass dann eine wachsende Zahl von Menschen ihnen gegenüber skeptischer werden könnte – besonders wenn die Energiekrise anhalten und aus Entwicklungsländern lautstarke Forderungen nach Hunderten von Milliarden an Klimakompensation kommen sollten.

Für die Klimabewegung könnte sich das Gefühl der apokalyptischen Dringlichkeit, das Aktivisten seit Jahren angetrieben hat, abschwächen. Wenn eine Erwärmung um 1,5 Grad nicht zum erwarteten Zusammenbruch der Zivilisation führt und aussergewöhnliche Änderungen kaum zu bemerken sind – wäre dann eine fortgesetzte Angstkampagne mit der Ausrichtung auf ein Ziel von 1,6 oder 1,7 oder zwei Grad noch glaubhaft, noch aufrechtzuerhalten?

Klar, Computermodelle und deren Prognosen liessen sich mit wenig Aufwand revidieren. Es wäre schliesslich nicht das erste Mal. Bereits 2017 sahen sich Klimawissenschaftler gezwungen, öffentlich zu erklären, sie hätten sich geirrt. Sie gaben zu, dass der vom Weltklimarat zuvor vorgelegte CO2-Haushalt für das 1,5-Grad-Ziel innert dreier Jahre aufgebraucht sei und deshalb der Katastrophenzeitpunkt in die Zukunft verschoben werde müsse.

Die Verschiebung des Weltuntergangsdatums ist eine altbekannte und gleichzeitig verrufene Methode gescheiterter Propheten. Seit Jahrhunderten sagen Apokalyptiker unermüdlich das Ende der Welt voraus. Und seit Jahrhunderten verschieben sie immer wieder das Datum des Untergangs. Sobald der Zeitpunkt ereignislos verstrichen war, machten sich Untergangspropheten nochmals ans Rechnen und verschoben die Apokalypse in die Zukunft.

«When Prophecy Fails» ist ein klassisches Werk der Sozialpsychologie. Das 1956 veröffentlichte Buch ist eine Studie über eine Sekte, die das kurz bevorstehende Ende der Welt prophezeite. Der Psychologe Leon Festinger und seine Kollegen interessierten sich besonders für die Bewältigungsmechanismen der Kultmitglieder, nachdem die Apokalypse nicht wie erwartet eingetreten war.

Die Studie zeigte auf, dass die Mitglieder nicht nur an ihrem Glauben an das nahende Ende festhielten, sondern sogar noch fanatischer ihrer Überzeugung nachgingen. Für die Kultmitglieder behielt die fehlgeschlagene Prophezeiung ihre Richtigkeit, da sie annahmen, nur das Datum habe etwas falschgelegen, weil ungeahnte Gründe zu einer gewissen Verzögerung des Untergangs geführt hätten. An ihrem Endzeitglauben hielten sie mit grösserer Hartnäckigkeit als zuvor fest.

Benny Peiser ist Direktor der Londoner Denkfabrik Net Zero Watch.