Das russische Staats-TV, Bastion der Kriegspropaganda, erlebt einen krassen Vertrauensverlust. Mitte März glaubten noch 33 Prozent der russischen Bevölkerung, was die Mattscheibe ihnen erzählt; Ende April waren es nur noch 23 Prozent. Das ergab eine repräsentative Umfrage in Städten mit über 100 000 Einwohnern; auf dem Land dürfte der Einbruch geringer ausfallen. Auch die namhaften Internetportale verlieren an Glaubwürdigkeit. Lediglich die sozialen Netzwerke legen zu, vor allem Telegram mit seinen Infokanälen jedweder Couleur.

Der Grenznutzen der überhitzten Propa- gandamaschine, der nicht enden wollenden Talkshows, in denen die Patrioten sich an Patriotismus überbieten, ist inzwischen negativ. Aber bedeutet das auch, dass Putins Politik an Zustimmung einbüsst? Seit 1996 stellt das renommierte Lewada-Institut einmal im Monat die Frage: «Sind wir auf dem richtigen oder dem falschen Weg?» In diesen über 25 Jahren gab es niemals (!) eine derart hohe Zustimmung zum generellen Kurs des Landes wie seit März 2022. Im Mai waren 68 Prozent der Russinnen und Russen der Überzeugung: So wie die Dinge laufen, laufen sie richtig. Im November 2021 waren es noch 46 Prozent gewesen.

Ängste, Ressentiments, Vorurteile

Wachsendes Misstrauen gegenüber der Propaganda, wachsende Zustimmung zum politischen Kurs, den diese Propaganda verbreitet – ein Dichterwort aus dem 19. Jahrhundert sagt: Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen. Doch das trifft nur zum Teil zu. Die Abwendung von der TV-Propaganda hat primär mit deren Stil zu tun. Die Propagandisten treiben es zu wild. Dabei sind es altbekannte Gesichter, Profis wie Dmitri Kiseljow, Wladimir Solowjow und die RT-Chefin Margarita Simonjan. Es sind seit Jahren dieselben, Meister und Meisterinnen im Bedienen von Ängsten, Ressentiments und Vorurteilen. Echokammern populistischer Erregung; lediglich die Formate ändern sich. Fake News, sofern sie der Sache dienen, dürfen sein.

Doch wie bei jedem Gift entscheidet die Dosis. Propaganda gehört subkutan injiziert; in den Muskel gespritzt, provoziert sie Abwehrreaktionen. In den Wochen nach dem 24. Februar wurde die Maschine in den Overdrive geschickt. Selbst die Zieroppositionellen und die paar Ausländer, die als Talkshow-Stammgäste aus anderer Perspektive kommentieren dürfen, waren nicht mehr zugelassen. Die russischen Talkmaster, etwa das Ehepaar Olga Skabejewa und Jewgeni Popow mit ihrer Sendung «60 Minuten», wurden zu anti-ukrainischen Einpeitschern.

Inzwischen hat sich das geändert – etwas. Ein pensionierter General durfte im Mai sogar lobend den Kampfgeist der ukrainischen Gegner erwähnen. Doch der eigentliche Skandal (aus westlicher Sicht) liegt darin, dass die Abwendung von der Propaganda mit breiter Zustimmung zur Politik einhergeht. Der scheinbare Widerspruch bestätigt die Erkenntnis, dass Propaganda nichts schaffen kann, was nicht schon vorhanden ist: im konkreten Fall das Ressentiment gegen den westlichen Liberalismus, der von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht als Weltanschauung freiheitlicher Existenz, sondern als Instrument fremder Interessen und fremder Macht gesehen wird. Darin verschmelzen die illiberale Tradition, die Erfahrungen des Kalten Kriegs und die Enttäuschungen nach 1990.

Während die TV-Propagandisten solche Gefühle mit dem Vorschlaghammer bedienen, kleidet der patriotische Filmregisseur Nikita Michalkow sie in ein historisch-intellektuelles Gewand. Sein Youtube-Kanal Bessogon (1,3 Mio. Abonnenten) gibt einen Einblick in die dem Westeuropäer fremde, nicht einmal im Ansatz nachvollziehbare Ablehnung seiner Überzeugungen durch gebildete, weitgereiste und offensichtlich europäische Kulturmenschen.

Im Kern geht es um Russland selbst

Natürlich steht auch bei Michalkow das schwierige russisch-ukrainische Verhältnis im Vordergrund, die historische Erfahrung mit dem antirussischen ukrainischen Nationalismus. Das ist aber nicht sein eigentliches Motiv. Wer Michalkow (und mit ihm Russland im 21. Jahrhundert) verstehen will, muss die Liberalismuskritik des Illiberalismus zulassen. Wer daran verzweifelt, wird auch an Russland verzweifeln.

Im Übrigen beweist die innerrussische Debatte, dass der Westen nur ein Platzhalter ist. Im Kern geht es um Russland selbst. Der Angriffskrieg ist eine Abrechnung mit der eigenen Verführbarkeit, eine autoaggressive Reaktion auf dreissig Jahre Hingabe. Die hohe Zustimmung zum eingeschlagenen Kurs kommt nicht von ungefähr. Russland und Europa befreien sich aus gegenseitiger, selbstverschuldeter Abhängigkeit – der Westen ökonomisch, Russland weltanschaulich. Das europäische Haus wird zurückgebaut. Die Konsequenzen sind noch gar nicht absehbar.

Die 3 Top-Kommentare zu "Wie bei jedem Gift entscheidet die Dosis"
  • ulswiss

    Ich sehe keinen Konflikt zwischen dem Vertrauen der Russen in die regierungsseitige Propaganda und dem breiten Willen der russischen Bevölkerung diesen Krieg, nachdem er halt begonnen wurde, nicht verlieren zu wollen.

  • Meinrad Odermatt

    Seit 30 Jahren versuchen und erwarten die Russen vom "überlegenen demokratischen Westen" etwas Werthaltiges zu bekommen! Aber da ist nichts! Ausser intrigante Lügen und Raubzüge auf die immensen Ressourcen des Landes. Ich habe schon 1997 in Moskau den Satz gehört: "Wenn das die westlichen Werte sind, dann verzichten wir gerne darauf". Dass in ihrem Land vieles nicht so läuft wie es sollte, wissen die Russen selber auch. Selbstlose Hilfe von aussen ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil...

  • RMHollenweger

    Der Herr Fassbender in der zunehmenden Angleichung an den manipulativen, Fakten verschweigenden Medien-Mainstream. Im Industriestaaten-Westen setzt die Kultur der ideologisch inszenierten Infantilisierung der Völker zum Gipfelsturm. Dank ca. 99% aller Medien, Mehrheiten in der Politik. Genährt wie angetrieben von der die Mittel der Korruption anwendenden Lobby aus den monetären Eliten. Herr Fassbender, versinken Sie nicht weiterhin mutlos in journalistischer Bedeutungslosigkeit.