Meiner Schätzung nach teilen 99,9 Prozent aller Frauen diese Erfahrung: Sie betreten gut gelaunt ein Kleidergeschäft in Vorfreude auf ein ertragreiches Shopping-Erlebnis und verlassen es mit einer beladenen Tasche voller Komplexe. Fünf Minuten in einer Boutique können das Selbstwertgefühl einer Frau nachhaltig zerstören.

Es ist die Umkleidekabine. Ganz ehrlich, ich wäre nicht überrascht, wenn sich Teile des Frauenkollektivs in den Zellen radikalisieren und sich nach einem Ladenbesuch drei Wochen lang täglich nur noch mit einem Salatblatt ohne Sauce ernähren, bei Alibaba die Cellulite Removal Machine für das Schnäppchen von 3999 US-Dollar bestellen oder sich gleich zur Fettabsaugung anmelden. Vielleicht alle drei zusammen. Und auch wenn man mit seinem Erscheinungsbild eigentlich im Reinen ist: Hat man sich einmal halbnackt in der Umkleidekabine betrachtet, ist man es garantiert nicht mehr. Ich sage: Selbst die sechzehnjährige Kunstturn-Olympiateilnehmerin kriegt da Depressionen.

Gehen wir die Qual durch: Die Gesichtshaut ist plötzlich pubertierend speckig, unter den Augen hängen pralle Säckchen. Aber vor allem untenrum ist es überdurchschnittlich grauenvoll: Die Oberschenkel sehen aus wie eine Buckelpiste in Zermatt. In einer Umkleidekabine ist die Schwerkraft ganz offensichtlich zehnmal stärker; man könnte sie genauso gut auf dem Planeten Saturn aufstellen, rein optisch erreichte man dort dasselbe Resultat.

Fragen geistern durch den Kopf: War das gestern schon so? Ist der Spiegel zu Hause von seinem Hersteller manipuliert? Lässt er mich dort absichtlich besser erscheinen? Nein, nein und nein. Es sind die gnadenlosen Lichtverhältnisse. Lampen, die von der Decke leuchten und die der Spiegel missbraucht, um uns schnippisch die Unperfektheiten zu demonstrieren und zuzurufen: Ich habe es dir gesagt, zu viel Fressen, zu wenig Sport, hehe! Es ist ein altersübergreifendes Dilemma und eines, dem angesichts ihrer körperlichen Beschaffenheit vor allem Frauen begegnen. Auf der ganzen Welt und egal, wie teuer die Klamotten im Store sind.

Dabei müsste das nicht sein. Denn zu Hause sehen wir ja nicht so aus. Wirklich nicht. Das ist nicht nur meine subjektive Feststellung, ich habe Zeugen: Niedergeschlagene Kundinnen haben nämlich (unretouchierte!) Bilder veröffentlicht, wo sie sich in Umkleidekabinen im gleichen Kleid oder Bikini fotografiert haben wie auch zu Hause. Resultat: In den eigenen vier Wänden machen alle eine viel bessere Figur. Schatten an den Oberschenkeln sind zwar sichtbar, weil aber meistens Tageslichtverhältnisse herrschen, ebnet es Dellen und Krater auf natürliche Weise. Auch ist das Kleideranprobieren zu Hause viel gemütlicher; man hat mehr Platz, im Hintergrund läuft «Jingle Bells», perfekte Raumtemperatur, zwischendurch wird am Cappuccino genippt.

Ist es also zu viel verlangt, die Garderobe nicht als das liebloseste Objekt im ganzen Geschäft zu behandeln? Es ist mir schleierhaft, warum sich Store-Concepter des Problems nicht annehmen – offenbar zielen sie darauf ab, dass Kundinnen den Laden so schnell wie möglich wieder verlassen. Oder sind andere Lichtquellen zu teuer? Kann es vielleicht sein, dass Umkleidekabinen nur von Männern gestaltet werden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frauen das Fiasko nicht erkennen und die Situation verbessern würden. Möglicherweise ist das ja der eine Moment, wo man sich die Quotenfrage stellen kann: Wäre es nicht schlauer, man würde dauerhaft eine Frau ins Store-Concept-Team nehmen? Und dann wundert man sich, warum viele Menschen lieber online bestellen.

Ich plädiere für ein Umdenken, liebe Boutiquenbesitzer. Legt den Fokus vermehrt auf die Kabinen und schenkt ihnen den Respekt, den sie verdienen. Für die Kundenzufriedenheit sind sie genauso wichtig wie die Ladefläche selbst, denn Kunden kehren eher zurück, wenn sie das Geschäft mit einem guten ein Gefühl assoziieren. Zudem trifft man den Kaufentscheid in den allermeisten Fällen in der Umkleide, nicht auf der Ladenfläche.

Besässe ich eine Boutique, würde ich die Kabinen in eine Wohlfühlzone wandeln und so schmeichelhaft gestalten, dass man darin selbst splitternackt ein gutes Gefühl hat. Dass das Selbstwertgefühl nicht in den Keller plumpst, man sich von verspiegelten Wänden nicht persönlich beleidigt fühlt. Das heisst nicht, dass wir getäuscht werden wollen, man muss uns keine Modelfigur vorgaukeln. Aber ich würde mit gedämmten Lichtquellen Tageslichtverhältnisse nachempfinden, den Winkel der Spiegel leicht anpassen, gemütliche 28 Grad schaffen und im Garderobenbereich den Duft einladender Aromen verbreiten. Mit diesem umgekehrten Ansatz bietet sich zudem die Möglichkeit, sich von dem Konkurrenten Online-Shopping abzuheben.

Und wem das alles zu wenig innovativ ist, der könnte wenigstens das Geld, das er heute an Store-Concepter verschwendet, besser investieren. Indem er nämlich den Kundinnen eine Schachtel Pralinés als Trost spendet, wenn sie mit verschmiertem Kajal das Geschäft verlassen.

 

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