Dieser Artikel erschien zuerst im Kreml-kritischen Online-Magazin Meduza. Wir dokumentieren die Analyse von Maxim Trudoljubow gekürzt im Wortlaut und übersetzt. Die Redaktion.

Prigoschin und seine «Armee» waren zweifellos Putins persönliches Projekt. Sonst gäbe es keine Beteiligung von Privat-Armeen an afrikanischen Konflikten, am Syrien-Krieg und am Krieg gegen die Ukraine. Sie hätten keinen Zugang zu Strafkolonien, und es gäbe keine Werbung für Privat-Armeen überall im Land.

Die Privat-Armeen blieben bis zum Morgen des 24. Juni 2023 Putins Projekt. Dann wurde der Präsident gezwungen, seine strategische Ambivalenz gegenüber Prigoschin aufzugeben. Er musste ihn öffentlich als «Verräter» bezeichnen.

Eine Söldnerarmee ist ein organisches Element des Putinismus. Sie ist eine Struktur, die tatsächlich die Befehle der obersten Führung des Landes ausführt, dies aber in einer Grauzone tut – ausserhalb des Gesetzes, quasi nach den Regeln der Schattenwirtschaft. Genau diese Vorgehensweise betrachtet Putin als die Krone der Regierungskunst und Effizienz.

Ohne Vertrauen in staatliche Institutionen und Berufsbeamte hat er in den 23 Jahren an der Macht nicht nur Quasi-Firmen gegründet, die auf Namen seiner Freunde und Ex-Kumpane eingetragen sind, und sogar ganze Quasi-Staaten wie die Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese schwarzen Löcher ermöglichten es ihm, sich selbst zu bereichern, während theoretisch jederzeit die Möglichkeit bestand, seine Beteiligung an ihnen zu leugnen.

Diese Strategie beruht auf der Annahme, dass alle Menschen immer «jemandes Jemand» sind: Wenn ein Herr sie nicht mehr bezahlt, suchen sie sich einen anderen, oder sie hören einfach auf zu arbeiten, wie ein Gerät, das von seiner Stromquelle getrennt ist. Doch Prigoschin hörte auch dann nicht auf zu handeln, nachdem man ihm den Stecker gezogen hatte. Vielleicht lag es daran, dass man den «Chefkoch» in die Enge getrieben hatte. Man wollte ihn schon lange stoppen, aber er verstand, dass es nicht gut für ihn war, die Bühne zu verlassen. Ohne Machtmittel ist er nicht nur ein Niemand, sondern ein Krimineller, in Russland wie im Ausland.

Als Prigoschin dies erkannte, begann er vor etwa sechs Monaten mit einer öffentlichen Kommunikationsstrategie, die schliesslich zu einer politischen Aktivität wurde. Prigoschins «Programm» weist alle Elemente einer radikalen populistischen Bewegung auf. Der führende Experte auf diesem Gebiet, der niederländischen Politikwissenschaftler Cas Mudde, beschreibt sie wie folgt: eine starre Einteilung der Gesellschaft in «gute Menschen» und «schlechte Eliten», die Forderung (und das Versprechen), die Nation zu retten, und autoritäre Methoden zur Umsetzung dieser Parolen.

Die populistische, das heisst elitenfeindliche Position von Prigoschin ist offensichtlich: Die Generäle werden fett und geben keine Granaten aus, die Kinder der Elite tummeln sich in den sozialen Medien. Die Elite ist die Ursache für den Verfall der Armee, wobei die Armee in seiner Rhetorik offenbar die Rolle des leuchtenden Beispiels spielt, während die gesamte Gesellschaft in Schwierigkeiten steckt. Die Elite muss verurteilt werden, um die Nation vor ihr zu retten.

Autoritäre Methoden sind die einzigen, die funktionieren, ergo muss Russland eine allgemeine Mobilisierung ausrufen und eine Planwirtschaft einführen. Wir wissen nicht, inwieweit dieses krude Schema die wirklichen Ansichten Prigoschins widerspiegelt, der sich sonst kaum von anderen Mitgliedern der Entourage Putins unterscheidet. Aber auf der Grundlage dieses Programms ist es ihm im Laufe weniger Monate gelungen, sich zu einer politischen Oppositionsfigur von föderalem Ausmass zu entwickeln. Ohne diese brandgefährliche Publicity wäre er wahrscheinlich bereits «liquidiert» worden – ermordet oder hinter Gitter gebracht. Er hat also eine gewisse Weitsicht.

Zwar hat Putin die Expertengemeinschaft mit seinem Glauben an die mangelnde Unabhängigkeit jeglicher Persönlichkeiten infiziert. Daher fragen sich Kommentatoren seit langem, inwieweit der sich beschleunigende Abgang Prigoschins inszeniert ist. Einige Quellen im Kreml haben ähnliche Überlegungen angestellt. Viele nahmen (wahrscheinlich zu Recht) an, dass Putin selbst Prigoschin brauchte, um die säumigen Generäle zu demütigen und einzuschüchtern.

Der «Aufstand» der Wagner-Truppe, der aus diesem Spektakel hervorging, dürfte trotz seiner kurzen Dauer einen schweren Schlag für Putins Macht bedeuten. Die Meuterei hat die Verwundbarkeit von Putins Machtsystem in seinem Kern – dem Machtzentrum – gezeigt. Prigoschin hat soeben bewiesen, dass es in Russland möglich ist, eine Millionenstadt einzunehmen, ohne dass ein einziger Schuss fällt, und dann ohne jeden Widerstand auf Moskau zu marschieren.

Leider – oder zum Glück – dauerte die Meuterei nicht lange genug, um herauszufinden, ob Prigoschins radikalpopulistische Ideen auch bei den Sicherheitskräften beliebt sind. Dies hätte sich an der Zahl der Militärangehörigen gezeigt, die auf die Seite der Privat-Armee übergelaufen wären. Aber in jedem Fall hat sich «Prigoschins Programm» geoutet – und es wird in der einen oder anderen Form in der Gesellschaft weiter kursieren. Die Meuterei von Prigoschin ist ein weiteres Glied in einem langen Prozess, der dazu führen wird, dass der König für nackt erklärt wird. Jede derartige Geschichte enthüllt Putin buchstäblich: Sie entkleidet ihn eines seiner vielen «Gewänder».

Der vorletzte Schlag gegen Putin kam in der Region Belgorod: Es stellte sich heraus, dass nicht allzu grosse militärische Verbände die Grenze überschreiten, bewohnte Gebiete einnehmen und sich ungestraft zurückziehen konnten. Damit konnte Putin nicht mehr behaupten, dass seine «Spezialoperation» keine Bedrohung für die Russen darstellte.

Schon zuvor wurde die Welt Zeuge der Unfähigkeit der russischen Streitkräfte, gross angelegte Kampfaufgaben zu lösen – der Mythos der «zweiten Weltarmee» und ihres Führers brach mit einem Knall zusammen. Schon in den ersten Kriegstagen wurde Putins Ruf beschädigt, als klar wurde, dass er systematisch über den Stand der Dinge in einem Nachbarland getäuscht worden war – und er, ein erfahrener Politiker und Geheimdienstoffizier, die unzuverlässigen Informationen nicht herausfiltern konnte.

Prigoschins Schlag ist der härteste: Es ist nun klar, dass Putin nicht einmal seine Leute kontrollieren kann, die irgendwann zu einer Bedrohung für alle anderen werden könnten.

Natürlich wird der Kreml versuchen, die Überbleibsel quasi-staatlicher Strukturen wie die Wagner-Armee loszuwerden. Aber schon Prigoschins «Marsch» auf Moskau bewies die Unzulänglichkeit von Putins Lebensvorstellungen, in deren Rahmen so etwas einfach nicht passieren kann. Die Zerstörung privater Militärunternehmen wird hier natürlich nichts ändern.

Die 3 Top-Kommentare zu "Kreml-kritisches Medium Meduza zu «Prigoschins Schlag»: «Nun ist klar, dass Putin nicht einmal seine Leute kontrollieren kann, die irgendwann zu einer Bedrohung für alle anderen werden könnten»"
  • gasseon

    Das Ganze hat für mich ein Nachgeschmack im Bereich Fake. Hat der Kreml sicher seine Probleme, jedoch der Ablauf und die ganze Art und Weise lassen mich zum Schluss kommen, dass der Westen das glauben soll. Wieso geht Progoschin nach Weissrussland? Putin könnte Ihn locker ausliefern lassen. Etwas stimmt nicht.

  • klaugue

    manche Fakten kann ich im Artikel nachvollziehen, andere sind Spekulationen. Die herbeigerdete Schwäche von Putin ist haltlos. Die Revolte Prigischins war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das ein Blutvergießen vermieden wurde ist das Beste an der Aktion. Was der Westen aus der Sache macht ist reine Propaganda und das wissen die westlichen Eliten bereits. Die "Wagners" waren aus dem aktiven Frontbetrieb bereits zurück gezogen, also wo ist der negative Einfluß auf das Kampfgeschehen.

  • RMHollenweger

    Ach wie lustig, die CIA hat führt ein Online-Magazin in Russland. Ersetzt die Namen + adaptiert die Geschichte in beliebige Ländern wo die CIA rsp. USA seit Jahrzehnten verdeckte Operationen führen. Die Russen kopierten aus dem Westen. Ein Dauerlacher, sollte sich dieser zu einer Demokratie-Simulation von Oligarchen verkommene Westen nicht totschämen - was er ja nicht einmal mehr zu tun bracht: Der Westen - hirnlos voran die europäischen US-Vasallen wandelt in selbst gelegten Minenfeldern.