Wir dokumentieren im Folgenden das Votum von Ständerat Daniel Jositsch (SP) zur Motion von FDP-Parteipräsident Thierry Burkart über die Schweizer Neutralität vom 6. März 2023. Die Rede publizieren wir im Wortlaut und ohne jedes Werturteil. Die Redaktion.

Ich werde die Motion Burkart ablehnen, ebenso wie die anderen entsprechenden Motionen, die früher oder später wahrscheinlich auch wieder zu uns kommen werden, und zwar aus den folgenden drei Gründen:

1. Die Neutralität steht hier nun einmal wirklich im Zentrum. Deshalb ist sie auch entsprechend zu behandeln. Die bewaffnete Neutralität, wie sie unsere Verfassung heute kennt, wurde im Rahmen des Wiener Kongresses von den europäischen Grossmächten festgelegt. Die Schweiz stand damals im Zentrum internationaler Konflikte. Napoleon war gerade überwunden worden; es galt nun, eine neue Ordnung in Europa zu schaffen. Die Schweiz erhielt in diesem Kontext die Position als neutrales Land.

Wenn ich das richtig aus den Geschichtsbüchern nachvollziehe, fand das damals nicht jeder in der Schweiz gut. Langfristig erwies sich die bewaffnete Neutralität in der Schweiz aber doch als Erfolgsmodell.

Auf der einen Seite ermöglichte sie es der Schweiz, in den letzten 200 Jahren nicht in internationale Konflikte – insbesondere in den Ersten und den Zweiten Weltkrieg – involviert zu werden. Ausserdem konnte sich die Schweiz aufgrund ihrer Neutralität international als Brückenbauer-Nation etablieren. Es wurde ihr möglich, Standort sehr vieler internationaler Organisationen zu werden, aber auch zwischen einzelnen Staaten zu vermitteln, die im Konflikt standen. Nicht zufällig nahm die Schweiz die Interessen der USA in Kuba wahr, und nicht zufällig nimmt sie die Interessen der USA im Iran wahr. Sie war auch schon verschiedentlich Hort und Geburtsgeberin für die Lösung internationaler Konflikte.

Das alles hat die Neutralität der Schweiz ermöglicht.

Wir sind ja auch stolz auf die Neutralität. Wir reisen gerne durch die Welt mit dem Schweizer Pass. Wir sind überall herzlich willkommen, werden überall geschätzt.

Neutralität – Herr Minder hat es gesagt – ist nicht nur für Friedenszeiten schön. Sie ist vor allem in Kriegszeiten wirksam. Hier hat sich eben seit den Zeiten des Wiener Kongresses etwas geändert. Früher, ungefähr bis zum Zweiten Weltkrieg, gab es das sogenannte ius ad bellum, das Recht, Krieg zu führen. Ein Staat konnte einem anderen Staat den Krieg erklären, und das war so in Ordnung, das war geltendes Recht.

Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es dieses ius ad bellum aber eigentlich nicht mehr. Jeder Krieg ist falsch. Natürlich wird manchmal darüber diskutiert, wer wen angegriffen hat. Letztlich hat jemand irgendjemanden angegriffen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist jeder Krieg falsch, jeder Krieg ein Verbrechen, ein Verstoss gegen internationales Recht. Damit hat die Neutralität natürlich auch eine andere Bedeutung erhalten. Man kommt als neutraler Staat in eine andere Situation. Früher, als Krieg gerecht war, war man als Neutraler bei allen herzlich willkommen. Es war überhaupt kein Problem.

Jetzt ist man faktisch nicht auf der Seite des Angegriffenen. Neutralität auszuhalten, ist also schwieriger. Das heisst, in Friedenszeiten, wenn Sie an 1.-August-Feiern unsere Neutralität beschwören oder durch die Welt reisen und sich als neutrale Schweizer feiern lassen, ist das schön. Aber die Neutralität kommt im Krieg zum Zug. Dann muss man sie aushalten können. Ja, Herr Burkart, Sie haben recht, wenn man nicht auf der Seite des Guten steht, dann hilft man, wenn Sie so wollen, dem Bösen, dem Aggressor. Aber das muss man aushalten, wenn man neutral ist, das ist so, das ist unangenehm.

Wenn Sie sagen, Sie wollten das nicht: Bitte sehr, dann ändern Sie die Bundesverfassung, machen Sie eine Volksabstimmung! Vielleicht sagt dann die Mehrheit, sie wolle das nicht mehr, man fände es zu unangenehm, dass man der Ukraine nicht helfen könne und in zukünftigen Konflikten dem Angegriffenen nicht helfen könne. Machen Sie eine solche Volksabstimmung – ich bezweifle allerdings, dass Sie diese Volksabstimmung gewinnen werden.

Ich bin vielmehr überzeugt, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer an der Neutralität festhalten würde. Aber man muss dann auch neutral bleiben.

Jetzt können Sie rechtlich argumentieren, aber ich sage Ihnen das als Jurist: Neutralität ist nicht das, was wir hier in diesem schönen Gebäude definieren, sondern Neutralität hängt von dem ab: Wie nehmen die Kriegsparteien – nicht die europäischen Staaten – die Position der Schweiz wahr? Eines ist klar: Wenn einem eine Patronenkugel entgegengeflogen kommt, auf der «Swiss made» steht, dann findet man nicht, dass die Schweiz neutral sei. Sie haben gesagt, dass man nicht mehr neutral sei, wenn man Truppen schicke. Selbstverständlich ist das so, aber heute bedeutet Unterstützung, Eintritt in den Konflikt nicht nur – wie man klar sieht –, dass man Truppen schickt.

Die US-Amerikaner schicken keine Truppen, die Deutschen schicken keine Truppen; heute werden Waffen geliefert, und damit wird auf das Kriegsgeschehen Einfluss genommen. Deshalb kann man nicht neutral sein, wenn man zulässt, dass schweizerische Rüstungsgüter – ob direkt oder indirekt – in das Kriegsgebiet geführt werden. Von dem her bin ich einfach der Meinung, dass Sie, wenn schon, Ross und Reiter benennen müssen. Wenn Sie die Neutralität aufgeben wollen, dann versuchen Sie das, aber machen Sie es auf dem richtigen Weg, indem Sie versuchen, die Verfassung zu ändern.

2. Sie haben gesagt, man könne die Regeln auch während des Spiels ändern; sie würden ja quasi für die Zukunft gelten. Ja, aber die Verträge wurden in der Vergangenheit gemacht. Und man ist dann – das ist der zweite Punkt – nicht mehr glaubwürdig. Das, was Sie betreiben wollen, haben wir in der Kommission als «Ad-hoc-Neutralität» bezeichnet – und das wäre es auch.

Sie können nicht sagen: Wir sind neutral, aber je nach Situation schauen wir dann, wie wir irgendwie darum herumkommen; wir ändern die Regelung gleich noch für die bestehenden Verträge.

Was Sie da aufs Spiel setzen wollen, ist die Glaubwürdigkeit der Schweiz. Sie haben es jetzt zugegeben, und auch Herr Salzmann hat es gesagt: Eigentlich geht es bei der Motion ja gar nicht darum, die Ukraine zu unterstützen, sondern es geht vor allem darum, unsere Waffenindustrie beizubehalten. Ich muss Ihnen sagen, ich verstehe Sie vor diesem Hintergrund sogar. Als wir die letzten Verschärfungen betreffend Waffenausfuhr und Wiederausfuhr gemacht haben, waren Sie dagegen. Damals sagten Sie, Sie wollten unsere Rüstungsindustrie unterstützen. Insofern verstehe ich sogar, dass Sie den politischen Wind jetzt auszunützen versuchen, um das rückgängig zu machen, was wir schon einmal entschieden haben.

Aber da möchte ich jetzt vor allem in Richtung Mitte argumentieren, die damals ja diese Verschärfungen unterstützt hat. Damals sind Sie unter Druck geraten, weil plötzlich Waffen aus der Schweiz irgendwo in dieser Welt aufgetaucht sind. Es gab grosse Medienberichte, und Sie haben gesagt, man müsse etwas machen – mit uns zusammen; wir haben immer schon gesagt, dass man etwas machen muss. Sie haben gesagt: Jawohl, wir helfen mit. Nun, zwei Jahre später, ist es wieder ein bisschen weniger bequem, diese Position einzunehmen. Jetzt wollen Sie sie wieder ändern. So können wir doch keine Gesetzgebung machen! Wir können uns doch nicht von den Medienschaffenden vorschreiben lassen, ob wir uns jetzt gerade wohl oder unwohl fühlen mit unseren Entscheidungen, und diese dann einfach mal so zu fällen und dann wieder rückgängig zu machen, je nachdem, wie wir das wollen. So machen wir uns unglaubwürdig.

Der letzte Punkt, und das scheint mir das Wesentliche zu sein, was wir berücksichtigen müssen: Sie haben gefragt, was das Bild ist, das wir gegen aussen abgeben. Gefällt es den anderen europäischen Staaten oder nicht? Ja, ist das jetzt das Wesentliche? Müssen wir jetzt jedem auf dieser Welt gefallen? Müssen wir so Politik machen und unsere grundsätzlichen Werte je nachdem aufs Spiel setzen?

Überlegen Sie einmal, worum es eigentlich geht: Das Kriegsmaterial, das jetzt indirekt über die Aufweichung der Nichtwiederausfuhrbestimmung in ein Kriegsgebiet gelangen soll, ist ja noch nicht einmal kriegsentscheidend. Es ist noch nicht einmal so, dass wir jetzt darüber entscheiden würden, dass die Ukraine eine reelle Chance hat, sich zu verteidigen.

Gott sei Dank machen das andere wie insbesondere die USA. Es geht also nur darum, dass wir gegenüber dem europäischen Ausland gut dastehen. Das ist nicht die entscheidende Frage – wie ich Ihnen gesagt habe: Neutralität ist auch einmal unangenehm, aber das ist einfach so, und das können wir auch aushalten, und das müssen wir auch aushalten.

Deshalb bitte ich Sie hier, die Motion Burkart 22.3557 abzulehnen.

Die 3 Top-Kommentare zu "SP-Ständerat Daniel Jositsch: «Neutralität ist auch einmal unangenehm, aber das können wir aushalten, und das müssen wir auch aushalten»"
  • Robert Barmettler

    Diese Rede könnte man BR Cassis jeweils mitgeben, wenn er ins Ausland fliegt.

  • Pinkpanther

    Herr Jositsch ist offenbar noch mit dem Schweizer Volk verbunden und drückt das aus, was die Mehrheit denkt 👍 Danke!

  • Mind-over-Matter

    Die Verschärfung des Waffengesetzes wurde ja JUST für den Kriegsfall gemacht (i.e. Verbot des Verkaufs und der Weitergabe von CH Waffen / Munition in ein Kriegsgebiet). Nun kann man dieses Gesetz nicht JUST im Kriegsfall ändern. Das wäre, wie wenn ein Arbeitgeber / Arbeitnehmer JUST im Kündigungsfall die Kündigungsklausel ändern würde. Das ist / wäre der sichere Weg zum Willkür-Staat, zur Erpressbarkeit à la carte, zur globalen Lachnummer und zum Ende der Schweiz als Rechtsstaat.