Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem guten Bekannten, ausgezeichneter Journalist, Deutscher, Herausgeber einer bedeutenden Zeitung, ich verehre ihn. Wir sind beim Thema Ukraine-Krieg gegenteiliger Meinung. Er findet, ich lasse mich allmählich vom «Antiamerikanismus» mitreissen. Ich widerspreche. Ja, ich kritisiere die US-Regierung derzeit ziemlich heftig. Aber ich bin nicht gegen die USA, ganz im Gegenteil.

Die USA sind grossartig, ein inspirierendes Land der Freiheit. Ich rechne ihnen hoch an, dass sie im Zweiten Weltkrieg Europa von den Nazis befreit haben – zusammen mit den Russen und den Briten, was wir nicht vergessen dürfen. Die USA sind ein Land der Siedler, der Pioniere und der Verfolgten, der Freiheitskämpfer und der Leute, die ihr Leben gegen Widerstand selber in die Hand genommen haben, ein Schmelztiegel der Völker, aber geeint in einem Geist der Freiheit und der Vielfalt.

Fantastisch.

Die Amerikaner haben aber auch, wie alles Menschliche, weniger erfreuliche Eigenschaften. Dazu zähle ich eine bestimmte Form des religiösen Fanatismus, der protestantischen Frömmelei. Ich halte ein religiöses Bewusstsein, eine christliche Grundierung der Kultur für eine grosse Stärke. Das Problem aber fängt an, wenn der Glaube in Trunkenheit umschlägt, in Selbstüberhöhung und die falsche Überzeugung, man sei dem lieben Gott näher als andere, weil man intensiver an ihn glaube.

Dieser Wesenszug ist Teil der amerikanischen Identität, das Gefühl des Auserwähltseins nicht im Sinne einer Bürde und Verantwortung, sondern im Sinne einer aktiven Sendung, einer Bevorzugung, einer Vorrangstellung vor Gott. Dieses Denken kann politisch in Messianismus umschlagen, konkret in Imperialismus, Herrenreitergehabe, in Arroganz und Machtgebaren. Das Problem verschärft sich bei grosser Macht, denn Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.

Das scheint mir heute das Problem der US-Regierung zu sein. Sie scheitert an einem übermotivierten Idealismus, der eigentlich eine Stärke ist, der einen aber blind macht für die Interessen der anderen. Mischt sich der überschiessende Idealismus mit Unsicherheit, wird er toxisch, aggressiv, gefährlich. Das scheint mir jetzt der Fall zu sein. Diese amerikanische Regierung ist im Begriff, die Ideale der amerikanischen Republik zu verraten. Sie huldigt amerikanischem Imperialismus.

Ich hatte vor vier Jahren ein interessantes Gespräch mit einem führenden amerikanischen Politiker. Er warnte vor China, nannte die Chinesen einen Todfeind der USA. Als ich ihn nach den Gründen fragte, kam eine aufschlussreiche Antwort. Er sagte, die Chinesen seien deshalb für die Amerikaner eine Bedrohung, weil sie durch ihre Tüchtigkeit, ihre Intelligenz und ihren Fleiss die Amerikaner überflügeln, schlagen würden in ihrer ureigenen Domäne: dem Wettbewerb.

Dieser Politiker sah in den Chinesen also nicht einen systemischen Rivalen, wie es China und die Sowjets im Kalten Krieg waren, sondern er sah sie als bessere Amerikaner im ureigenen Spiel der Amerikaner, dem Wettbewerb. Das war eine einigermassen erschütternde Feststellung für mich, waren doch die Amerikaner für mich bis jetzt die Champions des wirklich freien Wettbewerbs. Irrtum. Anscheinend bevorzugen sie den Wettbewerb nur so lange, wie sie am Ende immer gewinnen.

Die USA sind verunsichert. Wohl auch deshalb berauschen sie sich an ihrer eingebildeten Auserwähltheit, übertreiben sie den Idealismus, den Moralismus, verdrängend oder nicht erkennend, dass sie dadurch ihren eigenen Grundsätzen untreu werden: Freiheit, Vielfalt, Toleranz. Wir Europäer leben auf einem Kontinent der Kriegsverlierer, der Geschädigten. Wir wollen keine Kriege mehr. Die Amerikaner haben gut Krieg führen in Europa oder in Asien – sie merken davon viel weniger als wir.

Eben hat Ron DeSantis seine Kandidatur fürs Weisse Haus bekanntgegeben. Ich bin etwas enttäuscht. Ich finde den Kampagnenstart unsicher, neben der Zeit. DeSantis wirkt auf mich wie ein Regionalpolitiker auf einer zu grossen Bühne. Vielleicht kommt’s ja noch. Über die Weltlage sagt er nichts, er redet von inneramerikanischen Problemen. Aber die Welt braucht heute einen klugen Real- und Geopolitiker im Weissen Haus, einen, der die Brände löscht, die seine Vorgänger gelegt haben.

Ich bin für die USA. Die USA sind die wichtigste Macht auf Erden, aber sie sind nicht die einzige, und sie sollten auch nicht den Anspruch erheben, es zu sein. Heute scheinen sie für selbstverständlich zu nehmen, dass sie anderen Staaten und Zivilisationen Befehle erteilen, amerikanische «Werte» und amerikanische Interessen allen anderen aufzwingen können. Das ist falsch, vor allem ist es gefährlich, weil es das Risiko von grossen Kriegen erhöht.

Henry Kissinger, der grosse Diplomat, warnt vor einem dritten Weltkrieg. Er sieht den Handlungsspielraum der Grossmächte immer enger werden. Man manövriere sich wechselseitig in Ecken, aus denen man nicht mehr herauskomme. Ein Krieg zwischen den USA und China wäre schlimmer als der Erste Weltkrieg, mahnt der bald Hundertjährige. Seine Kritik zielt auf Washington. Die Biden-Regierung schnürt China bündnispolitisch immer weiter ein. Der Stresspegel steigt.

Europa ist unsichtbar. Ich sehe keine Führung. Die Deutschen hängen am Rockzipfel der USA. Das Wort «Vasall» ist noch zu freundlich, denn Vasallen hatten gegenüber ihren Lehnsherrn im Mittelalter immerhin noch gewisse Widerstands- und Unabhängigkeitsrechte. Vielleicht ist der Ausdruck «Sklave» passender. Die Briten heizen die Konflikte an. Die Polen und Balten haben mit Russland imperiale Rechnungen offen. Ungarn scheint die letzte vernehmliche Stimme der Vernunft.

Die Welt braucht mehr Gleichgewicht, weniger amerikanisches Übergewicht. Die USA irren, wenn sie glauben, ihre unipolare, einsame Vorrangstellung gegen aufstrebende, mehrtausendjährige Zivilisationen wie China mit der Brechstange sichern zu können. Die Chinesen haben die Nase voll vom westlichen Kolonialherrengehabe, das ihrem Land so viel Unheil zugefügt hat. Es braucht ein starkes Amerika, aber ein Amerika, das seine Grenzen kennt und die Grenzen der anderen respektiert.

So ist das, was die USA so gross macht, zugleich auch ihre grösste Schwäche: die Fähigkeit, Grenzen zu überwinden, über sich hinauszuwachsen, das Unmögliche zu schaffen, als «unbezähmbare Kraft des Guten» die Menschheit in ein Paradies auf Erden zu führen unter amerikanischer Flagge. Natürlich müssen die Amerikaner ihren Irrtum selber erkennen, aber wenn sie es nicht tun, wie es jetzt aussieht, sollten wir Europäer sie darauf hinweisen. Bestimmt. Und in aller Freundschaft.

Die 3 Top-Kommentare zu "Was ist bloss mit den Amerikanern los?"
  • decrinis

    "...ein starkes Amerika, das seine Grenzen kennt und die Grenzen der anderen respektiert..." Lieber RK, erkläre Chimäre: Die Politik der USA ist - offensichtlich - seit weit über 100 Jahren eine Politik der Kanonenboote, der gewalttätigen Einmischung und der Vorteilsnahme bezüglich dem Rest der Welt. Der "Irrtum" der Amerikaner ist in Wahrheit eine gewollte Entwicklung, an deren Ende die globale Vorherrschaft steht. Lug und Trug gehören dabei zum Handwerk, die Minsker Verträge beweisen es!

  • Scrambler

    Viele Laender der Welt wollten sich von dem von der USA kontrollierten Dollar-Joch befreien.Beispiel: Lybien-Venezuela-Iran-Russland-Kuba u.s.w. mit brutalen Konsequenzen. Die USA sind fuer mich schon laengst nicht mehr inspirierend mit ihren andauernden Drohungen und Kriegen.

  • yvonne52

    Eigentlich schüren die USA nicht nur mit China Krieg, sondern mit allen Ländern. Wer immer nicht 100% für sie ist, ist gegen sie und wird bekämpft, als "Achse des Bösen". Die Zeiten haben sich aber geändert und diese alte Kriegstaktik -und Rhetorik wird immer weniger goutiert. Gut so. Es könnte sogar sein, dass die USA plötzlich ganz alleine dastehen, in ihrem Kriegshunger. Das wäre wirklich an der Zeit und uns allen zu wünschen.