Heutzutage behauptet jeder, keine Zeit zu haben, aber es dürfte nicht sehr viele Unternehmer geben, die einen so vollgestopften Terminkalender haben wie der britische Milliardär Sir Jim Ratcliffe, Gründer und Chef des Chemieriesen Ineos.

Wenn er sich nicht gerade darum kümmert, den Umsatz seiner Firmengruppe zu steigern (65 Milliarden Dollar im Jahr 2021), kann man den Siebzigjährigen an der Seitenlinie des FC Lausanne-Sport sehen, den er 2017 gekauft hat, oder auf seinem Anwesen am Genfersee. Er könnte auch sein Radsportteam Ineos anfeuern, das bei der Tour de France oder dem Giro d’Italia erfolgreich war, oder in der Boxengasse mit Lewis Hamilton und George Russell plaudern, denn Ineos ist «Hauptpartner» des Mercedes-AMG-Petronas-Teams bei der Formel 1. Genauso gut könnte Sir Jim aber auch mit Sir Ben Ainslie über die Strategie des britischen Ineos-Teams beim nächsten America’s Cup diskutieren oder die jüngste Haka-Darbietung der neuseeländischen All Blacks bewundern (auch dieses Team wird von Ineos gesponsert).

Aktuell aber hofft Ratcliffe, geboren in Manchester und aus einfachen Verhältnissen stammend (der Vater war Tischler, die Mutter Sekretärin), dass sein jüngstes Projekt die Marktlücke schliessen wird, die seit dem Abschied des Land Rover Defender entstanden ist – eines der erfolgreichsten, populärsten und langlebigsten Klassiker der Automobilgeschichte.

Benannt nach einem Pub in London

Das Fahrzeug, mit dem Sir Jims junges Unternehmen Ineos Automotive die Lücke füllen will, ist der Ineos Grenadier, benannt nach dem Pub «The Grenadier» im noblen Londoner Stadtteil Knightsbridge, wo 2017 nach ein, zwei Bier die Idee entstand, einen Nachfolger des Defender auf den Markt zu bringen. Der Grenadier wird als Allradauto beworben, das in schwierigem Gelände praktischer ist als die luxuriöseren «Softroader»-SUVs von heute.

Fans des klassischen Land Rover waren empört, als der robuste Defender 2016 in Rente geschickt wurde – mit zwei Millionen produzierten Fahrzeugen, nachdem eines der ersten Modelle des Ur-Land-Rover im April 1948 auf der Amsterdam Motor Show präsentiert worden war. Der alte Defender, der den modernen Emissions- und Sicherheitserfordernissen vieler Länder nicht mehr genügte und im Grunde auch nicht den Komfort bot, der für heutige Autofahrer selbstverständlich ist, war bedauerlicherweise zu einem Dinosaurier geworden.

Und die Traditionalisten waren nicht überzeugt, als 2020 der neue Defender vorgestellt wurde. Sie fanden ihn zu luxuriös, zu teuer, zu komplex und wohl auch zu edel, als dass man ihn wie das Original hätte verwenden können – für land- und forstwirtschaftliche Zwecke, für Transporte, Fahrten mit Anhänger und andere Arbeitstiereinsätze (die er aber klaglos erduldete).

Sir Jim beschloss daraufhin, die von dem Defender hinterlassene Lücke zu füllen.Daraufhin beschloss der unternehmungslustige Sir Jim (er unternimmt gern Töff-Touren in wilder Natur), die von dem Defender hinterlassene Lücke zu füllen: Er entwickelte das Fahrzeug, obwohl viele Leute der Ansicht waren, Land Rover hätte den Nachfolger in Eigenregie bauen sollen.

Nicht einmal sechs Jahre nachdem das Projekt erstmals ventiliert wurde, ist die Produktion des Ineos Grenadier im Smart-Werk im französischen Hambach, das Ineos Ende 2020 von Mercedes-Benz übernahm, mittlerweile angelaufen. (Ausserdem kaufte Sir Jim auch den bereits erwähnten Pub «The Grenadier» sowie, durchaus passend für einen Offroader, die Outdoor-Bekleidungsfirma Belstaff.)

Testfahrten mit dem ersten Prototyp fanden im Rahmen der sogenannten Expedition 1 statt, die vom Castle of Mey am nördlichsten Punkt des schottischen Festlands bis nach Belgravia führte, dorthin, wo alles begonnen hatte. Ich war eingeladen, am zweiten Staffelabschnitt (von Inverness nach Glasgow) teilzunehmen, bei Schnee, Eis und strenger Kälte, überwiegend Offroad-Strecke – genau die richtigen Bedingungen also für die Erprobung eines Fahrzeugs, das härteste Geländeverhältnisse meistern soll. Auf den ersten Blick erinnert der Grenadier, entworfen von Toby Ecuyer (ein Debüt für einen Mann, der sich vor allem als Konstrukteur von Superjachten einen Namen gemacht hat), an den alten Defender, wenngleich die Front mehr mit der gefeierten Mercedes-Benz-G-Klasse gemeinsam hat. Aber täuschen Sie sich nicht, der Grenadier ist keine Kopie älterer Modelle, sondern insgesamt ein komplett neues Fahrzeug.

Motoren von BMW

Es hat einen massiven Leiterrahmen, zwei kräftige Starrachsen und gute alte Spiralfedern statt der (potenziell anfälligen) Hightech-Luftfederung, die viele moderne Offroader aufweisen. Allein das zeigt schon, dass der Grenadier für extrem unwegsames wie auch für unproblematisches Gelände gedacht ist, worauf auch die drei Sperrdifferenziale hinweisen (vorne, in der Mitte und hinten), die dafür sorgen, dass die Motorleistung in schwierigen Offroad-Situationen permanent auf alle Räder übertragen wird.

Der Grenadier kommt mit jedem Gelände und nahezu jeder Steigung und jedem Gefälle zurecht.

Unter der Motorhaube des Offroaders steckt ein Drei-Liter-Sechszylinder-Motor von BMW (Benziner oder Diesel), dessen Leistung über ein ZF-Acht-Gang-Automatikgetriebe mit manuell zuschaltbarer Antriebsuntersetzung übertragen wird.

Der Innenraum des Grenadier ist robust, aber komfortabel. Er weist innovative Bedienfelder auf – ein geteiltes Bedienfeld (oben Touchscreen, darunter schlichte Schalter und Knöpfe) und eine analoge Instrumentenkonsole wie in einem Flugzeugcockpit mit Kippschaltern für das Aktivieren von Features wie Sperrdifferenziale, Bergabfahrhilfe, Wat- und Offroad-Modus.

Die Konsole im Dachhimmel ist ausserdem mit vorverkabelten Schaltern für einige der vielen Optionen ausgestattet, mit denen der Besitzer die ohnehin eindrucksvolle Performance seines Grenadier verstärken möchte – etwa zusätzliche Scheinwerfer, Seilwinden, externe Energiequellen und so weiter. Andere hübsche Accessoires, die die Vielseitigkeit des Grenadier unterstreichen, sind robuste Halterungen für den Dachgepäckträger (ausgelegt für bis zu 450 kg im Stillstand beziehungsweise 150 kg im Fahrbetrieb), seitliche Klemmen zum Befestigen von Zubehör wie Campingtisch und Zelt sowie ein 2000-Liter-Stauraum, der unterschiedlich konfiguriert und mit diversem Zubehör ausgestattet werden kann.

Sogar für den leeren Raum innerhalb des Ersatzrads haben sich die pfiffigen Ineos-Ingenieure eine Verwendung ausgedacht: Er dient als abschliessbarer Stauraum, in dem man von dreckigen Gummistiefeln bis hin zu Campingutensilien alles Mögliche unterbringen kann. Fantastisch!

Das 20 000 Hektar grosse Testgelände von Ardverikie und Luss mit geröllübersäten Pisten, eisbedeckten Steigungen und Gefällen, tiefen Flussfurten, Strassen mit Spurrillen und sogar einer Querung durch den Loch Lomond war eine einzige Herausforderung für den Grenadier. Er bestand die Prüfung. Er erwies sich als so unverwüstlich, dass man tatsächlich den Wunsch verspürte, ein paar Sachen einzupacken und auf abgelegenen Schotterpisten eine Abenteuerreise zu unternehmen.

Traditionalisten werden anerkennend bemerken, dass die zentrale Differenzialsperre (die, weil sie die Leistung gleichmässig auf alle vier Räder verteilt, die Bodenhaftung verstärkt) über einen mechanischen Hebel aktiviert wird, während die vordere und die hintere Differenzialsperre elektronisch gesteuert werden.

Diese beiden Sperren sorgen dafür, dass die beiden Räder an einer Achse sich stets gleich schnell drehen – selbst wenn ein Rad keine Bodenberührung hat, wird es sich dank des anderen weiterdrehen.

Komfortabel und relativ geräuscharm

Angesichts der geschilderten Bedingungen hatten wir viele Gelegenheiten, all diese Instrumente zu nutzen – auch die elektronische Bergabfahrhilfe, die verhindert, dass der Wagen in steil abfallendem Gelände ausbricht. Sie fügten sich zu dem Gesamteindruck, dass der Grenadier mit praktisch jedem Gelände und nahezu jeder Steigung und jedem Gefälle zurechtkommt. Fast ebenso beeindruckend war das Fahrverhalten auf normalen asphaltierten Strassen.

Unter der Motorhaube des Offroaders steckt ein Drei-Liter-Sechszylinder-Motor von BMW.Wer jemals am Steuer eines alten Land Rover Defender sass (oder eines seiner schlichteren Vorgänger), wird wissen, dass die Lenkung, gelinde gesagt, unpräzise und das Fahren einigermassen anstrengend war. Nimmt man den Wind hinzu, der bei Autobahngeschwindigkeit durch die Türritzen pfiff, die verkrampfte Sitzhaltung des Fahrers und die etwas schwerfällige Performance, dann wird verständlich, dass viele Leute keine Lust hatten, weite Strecken in einem Defender zurückzulegen.

Beim Grenadier sind all diese Probleme gelöst: Die Türen sind dicht, das Fahrerhaus bietet reichlich Beinfreiheit, und die Vordersitze sind voll verstellbar.

Auf der Strasse ist die Lenkung straff und präzise, trotz der weichen Offroad-Federung schlingerte das Fahrzeug kaum, und die Höchstgeschwindigkeit beträgt zwar nur zirka 160 km/h, aber bei 120 km/h fährt das Auto komfortabel und relativ geräuscharm.

Der Grenadier ist natürlich keine Limousine und erst recht kein Sportwagen, aber er ist unzweifelhaft das, was er sein soll – ein robuster und praktischer Offroader mit so viel Finesse und einer solchen Performance, dass man sofort zu seinem nächsten Abenteuer aufbrechen möchte. Und weil wildes Camping, Überlandtouren, Trekking und extreme Outdoor-Sportarten immer populärer werden (von dem eingebauten Coolness-Faktor des Autos ganz abgesehen), wird Sir Jim mit dem Grenadier wohl eine weitere Erfolgsgeschichte schreiben.

Aber wird er je Zeit haben, einen zu fahren?

Simon de Burton ist einer der renommiertesten Auto- und Uhrenjournalisten Englands. Seiner Feder entstammen mehrere Bücher über Classic Cars und Motorräder. Er publiziert im Telegraph, der Financial Times, im Spectator, dem Motor Sport Magazine und GQ.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork