«Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr!
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben!
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen!»

– Rütlischwur, «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller

Lange vor John Wayne und Clint Eastwood, lange vor dem amerikanischen Western ist der Schweizer Nationalheld Wilhelm Tell zum Mythos, zum Inbegriff des unbeugsamen Freiheitskämpfers geworden, zum Wächter und Retter nicht nur der Schweiz, sondern zum Hoffnungsträger der Menschheit.

Friedrich Schillers Drama «Wilhelm Tell» sollte die deutschen Liberalen der Aufklärung inspirieren. In der Nazizeit galt der Tell als subversiv, und Friedrich Schiller war ein Feind des Staates. Mythen haben Sprengkraft, sind Triebfedern der Geschichte. Weil sie die Seelen der Völker berühren.

Wer ein Land und seine Bewohner verstehen will, muss ihre Mythen untersuchen. Mythen geben Antwort auf die Frage, wer wir sind und wer wir sein möchten. Mythen sind, nach wie vor, ein Faktor der Politik. Wer sich auf Mythen beruft, mobilisiert die Gemüter, entfesselt Kräfte.

Die grössten Schweizer Nationalmythen handeln von Wilhelm Tell und Arnold Winkelried. Tell ist der Tyrannenmörder, nachdem der Rütlischwur unsere Demokratie begründet hat. Winkelried steht für das Selbstopfer des Eidgenossen auf dem Schlachtfeld, den Seinen eine Gasse hauend. Während vieler Jahrhunderte bildeten diese Erzählungen die Grundlage des eidgenössischen Selbstbewusstseins. Der Eidgenosse war der Kämpfer, der Verteidiger seiner Freiheit gegen übermächtigen Widerstand. Tells Armbrust ist das Ur-Emblem dieser kriegerischen Kultur. «Vom Mythus zur Idee der Schweiz»: So lautete 1940 der Titel eines grossartigen Buchs. Der Autor Curt Englert-Faye griff die Freiheitssagen auf, um die Schweiz gegen Nazideutschland aufzurüsten. «Wieder einmal wollen alle Dinge neu werden in der Welt»: Sich selber treu bleiben aber müsse die Schweiz.

Es ist ein Jammer, dass die alten Heldenmythen in unseren Schulen nicht mehr gelehrt und diskutiert werden. Dahinter steckt eine Verflachung des Unterrichts, aber auch politische Absicht. Die letzten Jahrzehnte standen im Zeichen von «Öffnung» und «Anpassung»; mehr EU, weniger Schweiz. Da passen Tyrannenmord und Opfertat, Tell und Winkelried nicht mehr ins Bild, doch gerade in ihrer Verdrängung beweist sich ihre anhaltende Kraft. Mythen sprechen die Fantasie an, das Herz. Ohne Mythen kann es keine Begeisterung, keinen Patriotismus, letztlich keine Schweiz mehr geben. Ein Staat ist mehr als die Summe seiner Gesetze, kein blosser Paragrafenhaufen, mehr als die sterile Chronik von ein paar Daten, auf die sich die Geschichtsschreibung geeinigt hat. Die Schweiz ist ein gewachsener Organismus, beseelt, dichterisch überschimmert von mythischen Erzählungen.

Wer die Schweiz verstehen will, muss ihre Ursprünge erforschen, und diese Wurzeln liegen im Mythos, in den mythischen Bildern, nach denen die Eidgenossen ihren Staat gestaltet und entwickelt haben. Historiker, die den Mythos nur scharfsinnig zerlegen, sind blind, tappen im Dunkeln.

Einer der grössten Mythomanen der Schweizer Geschichte war wohl der Maler Ferdinand Hodler (1853–1918). Eines seiner interessantesten Gemälde befindet sich in der Ruhmeshalle des Schweizer Landesmuseums in Zürich. Es zeigt den «Rückzug von Marignano».

Hodler malt den Abzug der von den Franzosen bei Mailand vernichtend geschlagenen Eidgenossen 1515. Die Schlacht war extrem blutig, die Schweizer Verluste waren enorm. Das niederschmetternde Ereignis hatte weitreichende politische Auswirkungen in ganz Europa.

Die Pointe: Hodler zeigt die Eidgenossen geschlagen, aber nicht gebrochen, besiegt, aber nicht überwunden. Hinter dem eidgenössischen Zug steht als letzter, «stiernackig, feindwärts blickend, mit schlagbereiter Waffe» (Englert-Faye), ein Kämpfer, der den Franzosen noch immer drohend trotzt.

Die Schlacht von Marignano war für Hodler nicht der Nullpunkt, nicht Zusammenbruch oder Ende der Eidgenossenschaft, vielmehr eine Bekräftigung, ein Neuanfang, Rückbesinnung, eine Inspiration gewissermassen, aus der Katastrophe der Niederlage neue Kraft zu schöpfen.

Tatsächlich ging es nachher wieder aufwärts für die Eidgenossen: Marignano war der Ursprung der Neutralität, Beginn der Reformation, Kampf gegen das Söldnerwesen. Die Niederlage ging in die eidgenössischen Freiheitssagen ein, schlussendlicher Triumph der heroischen Verlierer. Das ist die Botschaft Hodlers. Solange die Schweizer an sich und ihre Freiheit glauben, lebt die Schweiz, wirkt sie fort, ist sie Inspiration, Hoffnung und Ansporn für alle, die sich irgendwo auf der Welt gegen Unterdrückung wehren.

Tells Armbrust, Winkelrieds Opfer und der trotzige Marignano-Rückzug auf die wehrhafte Neutralität: Die Mythen verschmelzen zum Vorbild einer Schweiz, die am stärksten ist, wenn sie bescheiden bei sich selber bleibt. Fremden Heerführern und Wirtschaftskriegern leistet sie keine Dienste mehr.

Der Mythos mahnt auch gegen die Versuchung. Die Schweiz ist weder internationale Macht noch Welt-Schiedsrichter des Rechts und der Moral. Die neutrale Schweiz, das Resultat einer militärischen Katastrophe, ist heute ein Angebot von Frieden, Sicherheit und Freiheit an die Welt.

Mythen sind gefährlich. Sie können sich jederzeit auch gegen die eigene Regierung richten. Darum sind Politiker, die ein Unbehagen an der Schweiz verspüren, denen die Schweiz zu klein, zu unbedeutend ist, so versessen darauf, die alten Mythen zu zertrümmern. Bis jetzt hatten sie keinen Erfolg damit. An jedem 1. August feiern wir die Ursprünge der Schweiz, den Bundesbrief, die Schlachten und Urkunden. Sie machen uns Mut im Kampf gegen die neuen Vögte, Päpste und Despoten. Die Kostüme wechseln, die Herausforderungen bleiben.

Immer schon und immer wieder greifen sie nach der Schweiz. Die einen möchten uns ihre Gesetze aufzwingen, andere wollen an unser Geld, an unsere Waffen und Soldaten. Der Mythos liefert hier nur eine, unmissverständliche Antwort: Nein! Hodler verwurzelte den noch jungen Bundesstaat in uralten Freiheitstraditionen. Curt Englert-Faye mobilisierte die Mythen gegen Naziherrschaft und Defaitismus im Bundeshaus. General Guisan, kein Zufall, schwor seine Offiziere auf dem Rütli zum bedingungslosen Widerstand gegen Hitler ein.

«O Eidgenossen! Gedenkt, was ihr gewesen! Haltet fest und fürchtet nichts» (Johannes Müller): Mythen geben Kraft und Mut. In verzweifelten Momenten sind sie der letzte Hoffnungsfunke. Nichts ist verloren, solange die Schweizer an sich und an die Wahrheit ihrer Mythen glauben.

 

«Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr!
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben!
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen!»

Rütlischwur, «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller