Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, von Herzen alles Gute zum neuen Jahr, viel Glück, Gesundheit und fundierte Zuversicht. Für Letzteres sind wir bei der Weltwoche gerne auch zuständig.

Ich habe mir für das kommende Jahr folgenden Grundsatz zu Herzen genommen: Friedliche Koexistenz! Friedliche Koexistenz ist das Gebot der Stunde.

Friedliche Koexistenz bedeutet: Leben und leben lassen. Die Angelsachsen nennen es «agree to disagree», wir erklären uns gegenseitig einverstanden, nicht miteinander einverstanden zu sein.

Friedliche Koexistenz ist das Gegenteil der Woke- und Cancel-Culture, dieser spätjakobinischen Verirrungen eines theologiebefreiten Moralismus, der andere Meinungen auf den Index setzt, verbietet.

Friedliche Koexistenz bedeutet, dass man wieder miteinander diskutiert, das Gespräch sucht, den anderen mit seiner anderen Meinung ernst nimmt, indem man ihm beherzt widerspricht, ohne ihn aus dem Verkehr ziehen zu wollen.

Friedliche Koexistenz ist Vielfalt, Mehrstimmigkeit, auch Gegensatz und Streit, kein vorgekauter Konsenszwang und keine Meinungseinfalt, das Gegenteil dieser verlogenen Pseudoharmonie, die auf Ausschluss und Verketzerung Andersdenkender beruht.

Friedliche Koexistenz ist das organische Herzgewebe der lebendigen Demokratie, die Formel für das, was die Schweiz seit Jahrhunderten zu sein bestrebt ist.

Die Schweiz ist ein Mutterland der friedlichen Koexistenz. Wir sind mehrsprachig, multikonfessionell, eine Stammesgesellschaft selbstbewusster Minderheiten. Wir haben feine Antennen, können zuhören, sind einfühlsam und respektvoll dem anderen gegenüber, nicht weil wir bessere und empfindsamere Menschen sind, sondern weil wir es auf engem Raum mitunter schmerzvoll haben lernen müssen.

Längst ist es unübersehbar: Die Welt ist im Begriff, verrückt zu werden. Die Spannungen steigen, die Aggressivität nimmt zu, ein weltweites Lauern und Gifteln, Moralisieren und Dröhnen, Schützengräben werden ausgehoben, ein neuer kalter Krieg der Selbstgerechten ist bereits im Gang: Gute gegen Böse, Geimpfte gegen Ungeimpfte, Amerikaner gegen Russen, Europäer gegen China, sogar die harmlose Schweiz steht am EU-Pranger – die Zeitzeichen stehen auf Konflikt.

Und die Medien heizen es an, anstatt Entspannung zu betreiben. Journalisten laufen Gefahr, vor lauter guter Absichten zu Handlangern einer neuen Inquisition zu werden mit ihrem lauernden Moralismus, ihrem Schubladisierungswahn, der überall Gift streut und Zwietracht sät.

Wir sind im Begriff, zu verlernen, dass Demokratie und Meinungsvielfalt zusammengehören und dass Meinungsvielfalt auch ausdrücklich das Recht einschliesst, irritierende, ärgerliche, unmögliche, skandalös falsche und groteske Meinungen zu verbreiten.

Die Schweiz ist das Hauptquartier der friedlichen Koexistenz. Sie könnte durch ihr gutes Beispiel als Vorbild wirken. Respekt nach allen Seiten, bei uns sind alle willkommen, und alle reden mit allen über alles, was alle betrifft – die Schweiz der neue, aber eigentlich altbewährte neutrale, gebirgsluftige Welthöhenkurort, der Zauberberg der gelebten Vielfalt, der friedlichen Koexistenz?

Warum nicht.

Aber eben, ganz wichtig: Wir reden hier nicht von Kirchhofsruhe und eingemitteter Mitte. Friedliche Koexistenz ist auch Gegensatz, Widerspruch, schroffe Debatte, Robustheit, Dissens, Uneinigkeit, Spaltung, sportliche Diskussions- und Streitbereitschaft. Wo offen geredet wird, wird auch gestritten, da kann es knirschen und krachen, die Begleitmusik einer vitalen, friedlichen Koexistenz.

Was hat die Schweiz, was hat den Westen stark gemacht? Das offene Gespräch, der «herrschaftsfreie Diskurs», die den Mächtigen in vielen Bürgerkriegen abgetrotzte Möglichkeit, nein zu sagen, dagegenzuhalten, nicht einverstanden zu sein mit dem, was je nach Zeitgeist als wahr, gut und schön ausgegeben wird.

Wir sind gerade dabei, diese Errungenschaft der Freiheit preiszugeben, zu schlachten auf dem Opferaltar aktueller Korrektheiten. Die Gesinnungsmetzger sind unter uns, auch in der Schweiz.

Wir halten dagegen im Zeichen der friedlichen Koexistenz. Alle sind herzlich willkommen, egal, ob links oder rechts, grün oder rot, schwarz oder blond, Herkunft und Haarfarbe spielen keine Rolle, alle sind als Leser, als Gesprächsteilnehmer eingeladen, auch die Unmöglichen, die Ausgegrenzten, Gecancelten, Aristokraten und Proleten, die Verschwörungstheoretiker und die Anti-Verschwörungstheoretiker, Gegner wie Verfechter des Mainstreams, wir grenzen weder aus noch ab, denn Handeln setzte Verstehen und Entscheiden voraus, und die Qualität einer jeden Entscheidung steigt mit der Qualität der Auseinandersetzungen, des kritischen Prüfens, Wägens und Hinterfragens möglichst vieler, gegensätzlicher Standpunkte, die aber nur dann herausgekitzelt werden können, wenn ein Klima zensurbefreiter Offenheit, eben friedlicher Koexistenz besteht.

Friedliche Koexistenz ist das Gebot der Stunde. R. K.

Die 3 Top-Kommentare zu "Friedliche Koexistenz"
  • Doofydoof

    Sehr geehrter Herr Roger Köppel. Das Thema «friedliche Koexistenz» habe ich längst basal in einem Kommentar konkret angesprochen, schauen Sie bitte nach. Weshalb jetzt dieser «lauwarme» Text? Wir brauchen endlich KLARtext, genug der «Entschuldigungsmentalität». Das Bisherige kann man drehen und wenden wie man will – es bleibt leider ein psychopathisches, unwissenschaftliches, menschenverachtendes Verbrechen! Dafür reichen 500 Zeichen plus offene Sinne! Bitte Text nicht wieder zensurieren! Danke.

  • Doofydoof

    Was ich noch zu sagen hätte, dauert 1 Zigarette und ein letztes Glas im Stehen… https://youtu.be/6YnQc-AdNCI NICHT labern! Zuhören, Verstehen, Denken, Aufstehen, Handeln! https://youtu.be/YavThhrC1ik Danke!

  • dr.ulrich.fritz

    Danke, Herr Köppel, für Ihren Standpunkt. Ich bin sicher, fast alle Ihre Leser teilen ihn. Nur leider lesen noch allzu wenige Ihre Zeitung. Ich drücke - ganz selbstsüchtig - alle Daumen, daß sich die Verbreitung der WW baldigst erhöhen möge... Vielen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz für ein vernünftiges Miteinander