Hey du, ich habe hier ein A… Psst! Das politische Deutschland gleicht heute jener legendären Szene aus der «Sesamstrasse», in der ehedem ein vermeintlicher Schwarzhändler Kindern hochbrisante Buchstaben im Innenfutter seines Mantels verkaufen wollte und sich dabei mit beiläufiger Anspannung nach allen Seiten umsah. Nur nicht erwischen lassen …

Nach dem Ampel-Ende «stellten sich Gefühle der Erleichterung und des Aufbruchs ein. Doch zehn Tage später ist von diesem Frühling im November nichts mehr übrig», schreibt Bild-Chefredakteur Robert Schneider im Leitartikel der Bild am Sonntag. Regelrechte Verzweiflung bricht sich bei ihm Bahn angesichts der völlig veränderungsresistenten deutschen Politlandschaft, in der ein gescheiterter Kanzler wie selbstverständlich sich zum Weitermachen als SPD-Spitzenkandidat ausruft.

Der ebenso gescheiterte Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen will es nach dem Debakel mal so richtig wissen und nun erst recht selbst Kanzler werden, und Finanzminister Christian Lindner (FDP) strebt denselben Posten auch in der künftigen Regierung an.

Wechsel? Denkpause? Lektion gelernt und angenommen? Fehlanzeige. In Berlin laufe alles auf eine «grosse Koalition» aus Union und SPD zu, schreibt Schneider.

Und je weiter man den Kommentar liest, desto provokanter lugt jener politische Schwarzmarktgeist zwischen den Zeilen hervor, der in Wahrheit ein blaues Gewand trägt: «Wie soll einem Kanzler Friedrich Merz eine Reform des Bürgergelds gelingen, wenn der nächste Arbeitsminister wieder Hubertus Heil heissen sollte? Wie will er die Wirtschaft entlasten und Deutschland für Investoren wieder attraktiv machen durch Steuersenkungen und Bürokratieabbau mit der Mützenich-SPD? Wie soll mit der ‹Friedenspartei› SPD die Bundeswehr kriegstüchtig werden? Kein Wunder, dass Merz vorauseilend an der Schuldenbremse kratzt.» Und: «Mit Schwarz-Grün sähe es leider nicht viel besser aus. Im Kern setzen die Grünen wie die SPD auf staatlichen Dirigismus, die einen mehr in der Umwelt-, die anderen mehr in der Sozialpolitik.»

Hm, da ist ziemlich viel dran. Und wenn man die Dinge zu Ende denkt, lautet die Botschaft: Wer Union, SPD, FDP und Grüne wählt, bekommt das Gleiche wie bisher. Es ist ein präziser Punktstrahler auf die strukturelle Reformunfähigkeit des deutschen Politiksystems. Sollte man am Ende gar bei der Wahl die A… Psst. Natürlich nicht!

Den blauen AfD-Elefanten im Raum erwähnt Schneider, gebürtiger Ostmensch aus Leipzig und im unangreifbaren Angreifen geübt, selbstverständlich nicht.

Was Schneider präzise auf den Punkt bringt, ist ein wachsendes Lebensgefühl, das in den USA Donald Trump zum Erdrutschsieg verholfen hat und von der Stimmung getragen wird, dass nur noch disruptives und in den Umgangsformen wenig wählerisches Wahlverhalten die links-liberalen Polit-Lieferketten zerschlagen kann, die Land und Leute nach unten ziehen. Die völlige Lernunfähigkeit der Etablierten macht Destruktives hoffnungsvoll. Offen für die AfD werben will man bei Bild selbstverständlich nicht. Für Wagenknechts Bündnis erst recht nicht. Ein Sittengemälde aus dem verdrucksten Deutschland dieser Tage.

Aber Pssst! Muss unter uns bleiben.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.