Seit fünfzehn Jahren lebe ich in der Schweiz. Seit acht Jahren habe ich den Schweizer Pass. Chuchichästli kann ich zwar nicht ganz akzentfrei sagen, aber das Rütli kenne ich ebenso wie das Landesmuseum und die Tellsplatte.

Meine Wurzeln aber befinden sich im Süden von Russland – und in der Ukraine. Geboren bin ich als russische Ukrainerin oder als ukrainische Russin zu Zeiten der Sowjetunion. Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter Russin. Zwischen Sumy (in der Ukraine), wo ich geboren wurde, und Rostow am Don (in Russland), wo ich lange gelebt habe, war die Grenze immer offen – so wie zwischen der Schweiz und Deutschland.

In meiner Erinnerung ist der Donbass in der Ostukraine eine blühende Landschaft voller Getreidefelder, fruchtbarem Land und mit weltoffenen und gastfreundlichen Menschen – und kein düsterer Kriegsschauplatz.

Wer in der Ukraine oder in Russland zu jemandem nach Hause eingeladen wird, weiss wovon ich spreche: Der Gast ist immer König – und erhält alles zum Essen und Trinken, was die Vorratskammer hergibt. Oder noch mehr.

Doch nun ist alles anders – und für mich unfassbar. In einer Region, in der es früher nie Konflikte gab, fürchten die Menschen um ihre Existenz. Meine ukrainischen Cousinen Olga und Anna haben insgesamt fünf kleine Kinder. Sie leben in ungefähr acht Kilometern Entfernung von der Grenze zu Russland und in ständiger Angst, dass die russische Armee einmarschieren könnte. Früher war ihre Heimat eine beliebte Touristenregion.

Aber auch die Russen auf der anderen Seite fürchten sich. Denn für sie ist der Konflikt eine von den USA gesteuerte Intrige, die auf dem Versprechen auf ein besseres Leben basiert. Und viele Ukrainer erhoffen sich, durch den Westen aus ihrer Armut befreit zu werden. Wer in der Ukraine pro Monat umgerechnet 500 Dollar verdient, gehört zu den gutsituierten Menschen.

Für den Traum eines privilegierten Lebens sind auch die Ukrainer bereit, zu den Waffen zu greifen. Meine Kolleginnen haben mir erzählt, dass sich sogar Frauen fürs Militär bewerben. Das ist für mich völlig unvorstellbar. Die Frage, um die sich alles dreht, ist die gleiche wie jene, die mir hier in der Schweiz gestellt wird: Gibt es Krieg? Nur der Kreml weiss es.

Der Sohn meiner Schwester, Simon, ist 21 Jahre alt. Im vergangenen Jahr absolvierte er die Grundausbildung in der russischen Armee – zum Lastwagenfahrer. Jedes Mal, wenn ich im Fernsehen die Bilder der russischen Truppen-Zusammenzüge und der Militärlastwagen an der ukrainischen Grenze sehe, überkommt mich die Angst.

Ist Simon vielleicht dort? Zum Glück nicht. Ich habe vergangene Woche mit ihm telefoniert. Er sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen. Für den Kriegseinsatz würden vor allem professionelle Soldaten und Offiziere eingezogen.

Besser macht dies die Lage nicht. Im Gegenteil. Von Tag zu Tag scheint die Eskalation näherzurücken. Ich erhoffe mir nichts mehr, als dass Putin zur Einsicht kommt, dass er mit seiner Strategie ganz viel zerstört – auf beiden Seiten. Früher waren die wichtigsten Wünsche der Russen: ein guter Job, eine Ausbildung für ihre Kinder an einer westlichen Universität und Ferien im Ausland. Heute kämpfen sie ums Überleben – wirtschaftlich, sozial und real.