Angesichts der teilweise desolaten Lage seiner Invasionsarmee weicht Russland seine Vorbedingungen für eine Friedenslösung etwas auf. So enthält der jüngste Forderungskatalog nicht mehr die Demilitarisierung der Ukraine. Moskau will hingegen, dass die Ukrainer erstens das Feuer einstellen und zweitens in ihrer Verfassung festschreiben, dass sie weder der Nato noch der EU beitreten. Ausserdem soll Kiew die Unabhängigkeit der aufständischen Donbass-Republiken anerkennen und die Krim offiziell an Russland abtreten.
Diese Forderungen sind für Kiew weiterhin inakzeptabel, aber immerhin stellt Moskaus neuer Katalog eine leichte Abschwächung der Haltung dar, die noch vor wenigen Tagen vorherrschte. Ukraines Präsident Selensky zeigte sich demgegenüber zum Dialog bereit und wünscht sich direkte Verhandlungen mit Putin: «Ich bin bereit für einen Dialog. Aber wir sind nicht bereit für eine Kapitulation.» Man könne auch über den Donbass und die Krim sprechen, aber eine Abtretung der seit 2014 völkerrechtswidrig von Russland besetzten Halbinsel steht für die Ukrainer nicht zur Diskussion.
Ohnehin glauben die wenigsten Ukrainer den Versprechungen des Kreml. Dessen Behauptung, man greife keine zivilen Ziele an, wirken wie Hohn. Es ist die Zeit der Zyniker. Beschiessen sich die Ukrainer etwa selbst mit schweren Mehrfachraketenwerfern, wie das ein russischer Politiker nahelegte? Natürlich nicht. Das ist kompletter Unsinn und übelste Kriegspropaganda, um zu Hause und bei Putin-Verstehern im Westen Zweifel zu nähren, wer der wahre Auslöser der humanitären Katastrophe ist. Die im Vergleich zu Russland kleine Ukraine hat den grossen Nachbarn nie militärisch bedroht. Der Aggressor ist einzig und allein Russland. Nach dieser Erfahrung mit ihrem grossen Nachbarn werden die Ukrainer Moskaus Worten nie mehr Glauben schenken.
Immerhin konnten gestern aus der nordöstlich von Kiew gelegenen Stadt Sumy Zivilisten durch einen humanitären Korridor evakuiert werden – das erste Mal, dass ein solcher vorher vereinbarter Exodus nicht behindert wurde. Wie wenig ernst Moskaus bisherige Vorschläge für humanitäre Korridore aber sind, zeigt schon die vom Kreml lancierte Idee, ukrainische Zivilisten nach Russland oder Weissrussland zu bringen – also in Feindesland.