Meine wichtigste Botschaft lautet: Ich bin gegen den Krieg. Ich liebe die Russen. Ich liebe die Ukrainer. Und der Westen soll aufhören zu hetzen. Die Regierungen im Westen sagen, sie wollen Frieden. Gleichzeitig liefern sie Waffen in die Ukraine und verlängern das Töten. Diese Doppelmoral erschüttert mich. Ich bin Ukrainerin. Meine Mutter ist Russin und mein Vater Ukrainer mit russischen Wurzeln. Ich bin aufgewachsen in der Nähe von Lemberg, in der tiefsten Westukraine, nicht weit entfernt von der polnischen Grenze. Ich habe in Moskau am Gerassimow-Institut Kinematografie studiert, und mein Vater hat zuerst für die russische Regierung gearbeitet (Diplomatie) und ist später nach Kiew gezogen als Berater von Julia Timoschenko. Für mich ist dieser Bruderkrieg eine Tragödie. Er muss so schnell wie möglich enden.

Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt, dass Putin in der Ukraine auf breiter Front einmarschiert. Wie die meisten ging ich davon aus, dass die Russen die Separatisten-Gebiete im Osten besetzen, Donezk und Luhansk, wo der Grossteil der Leute Russisch spricht. Mich stört die Einseitigkeit der Berichte, auch hier in der Schweiz, die Gleichgültigkeit. In der Ukraine haben wir seit acht Jahren Krieg, nicht erst seit ein paar Tagen. 14.000 bis 15.000 Menschen sind in dieser Zeit auf zum Teil bestialische Art getötet worden, auch von der ukrainischen Armee und den ukrainischen Nazis, den Ultranationalisten. Hat man davon im Westen überhaupt Notiz genommen? Als Putin von einem «Genozid» sprach, hat dies Deutschlands Kanzler Scholz als «lächerlich» bezeichnet. Sind denn die russischen Toten zum Lachen? Als Ukrainerin empört mich diese Wortwahl.

Natürlich gibt es in der Ukraine Nazis. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Ihre Geschichte geht zurück in den Zweiten Weltkrieg. Damals kämpften sie mit den deutschen Nazis gegen die Russen. Ihr Held heisst Stepan Bandera, ein Faschist, Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Jetzt benennen sie wieder Strassen nach ihm. Die ukrainischen Nazis hassen die Russen, sie schüren eine Russophobie, und die Regierung hat nichts dagegen unternommen. Ganz im Gegenteil. Sie haben nach 2014 in der Ukraine die russische Sprache verboten, von einem Tag auf den anderen. Dabei sind wir ein mehrsprachiges Land, die meisten reden Russisch und Ukrainisch. Man durfte die grossen russischen Dichter Tolstoi, Puschkin, Dostojewski in der Schule nicht mehr unterrichten. Präsident Selenskyj hat diese Nazis nicht unter Kontrolle. Sie nehmen die eigene Bevölkerung als Geiseln, benutzen die Zivilbevölkerung als Schild. Die Regierung in Kiew hat jetzt sogar die Gefängnisse geöffnet. Mörder und Verbrecher laufen frei herum. Viele werden als Flüchtlinge zu uns kommen.

Der Westen betreibt eine unglaubliche Hetze und Dämonisierung. Putin und die Russen sind die neuen Teufel. Für mich ist Putin kein Monster. Er hat seine Linie, verteidigt die Interessen Russlands. Nein, ein Heiliger ist er nicht. Aber sind das die Amerikaner? Wie viele Kriege haben sie geführt, wie viele Bomben abgeworfen? Putin verbunkert sich nicht. Er redet mit dem Volk. Ich höre mir seine Reden an. Er sagt immer das Gleiche: Er werde Europa nicht angreifen. Er wolle die Ukraine nicht erobern. Er wolle eine unabhängige Ukraine, keinen Vorposten der Nato mit antirussischen Nazis. Putin sagt, der Einmarsch sei die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen, aber man habe ihm keine andere Wahl gelassen. Er behauptet, die ukrainische Regierung habe am 21. März eine Grossoffensive auf die Ostukraine geplant. Ich kann nicht überprüfen, ob diese Informationen stimmen, aber es gibt in diesem Krieg auch eine russische Sicht, nicht nur eine Sicht des Westens. Wir bekommen nur eine Sicht, die andere ist verboten.

Die Sanktionen des Westens gegen Russland sind ein Fehler. Man unterschätzt die russische Seele. Wenn die Russen angegriffen werden, rücken sie zusammen. Putin hat mit den Sanktionen gerechnet. Ich glaube auch nicht, dass seine Truppen scheitern, wie unsere Medien schreiben. Er hat nie gesagt, er werde die Ukraine in drei Tagen erobern. Natürlich könnten die Russen mit ihren Raketen alles zerstören und schneller vorrücken – wie die Amerikaner im Irak. Aber es ist für mich klar, dass sie den Befehl haben, sich auf militärische Ziele zu konzentrieren und unnötige Gewalt zu vermeiden. Alles andere wäre nicht im Interesse Russlands. Denn irgendwann muss man aus dieser grauenhaften Konfrontation wieder zurück zum Frieden, zum Miteinander. Slawen töten Slawen. Das ist fürchterlich. Es gibt nicht so viele von uns. Wir dürfen uns nicht gegenseitig umbringen. Darüber mache ich mir im Moment die grössten Sorgen. Militärisch wird Putin gewinnen, aber nachher?

Ist Russland eine Diktatur? Das rufen die Medien im Westen. Aber in Russland gibt es Twitter, Facebook, Youtube, erst jetzt haben sie Instagram gesperrt. Das ist anders als in China, wo die Politik alles verbietet. Ich frage mich, ob sich nicht bei uns gerade so etwas wie Diktatur ausbreitet.

Man darf nichts mehr sagen. Wer eine andere Meinung hat und die auch öffentlich macht, wird zum Aussenseiter. Ein deutscher Fernsehsender hat mit mir ein Interview geführt über die Ukraine. Sie haben den Beitrag nicht ausgestrahlt aus Angst vor Protesten. Man könne mit mir nicht mehr zusammenarbeiten, wenn ich meine Meinung sage. Diese antirussische Stimmung ist beängstigend. Russisch sei eine «Mördersprache», habe ich gehört. Sogar in der neutralen Schweiz haben Russen Angst vor Diskriminierung. Das muss aufhören. Mir geht es um den Frieden. Der Westen sollte sich nicht einmischen. Er macht es nur schlimmer. Diesen Bruderkrieg müssen Russen und Ukrainer unter sich klären. Wir müssen alles unternehmen, um diese Tragödie so schnell wie möglich zu beenden!

Irina Beller, Ukrainerin mit russischen Wurzeln, lebt seit vielen Jahren in der Schweiz.

In einer früheren Version dieses Artikel hiess es, die ukrainische Armee habe 14.000 bis 15.000 Menschen seit Kriegsbeginn vor acht Jahren getötet. Tatsächlich handelt es sich dabei um die Gesamtzahl der Kriegsopfer ab 2014 bis zum Einmarsch der Russen in der Ukraine.