«Switzerland: zero points. La Suisse: zéro points. Schweiz: null Punkte» – kaum ein Anlass hat uns in unserem Nationalstolz so sehr verletzt wie der Eurovision Song Contest. Bevor uns Luca Hänni aus der ewigen Agonie befreite, mussten wir uns Jahr für Jahr vor Augen führen lassen, was Resteuropa von uns hält: fast nichts. Dass irgendwann kurz nach dem Rütlischwur Céline Dion für die Schweiz gewonnen hatte, konnte daran nichts ändern. Das Stimmwunder stammt aus Kanada.

Die echten Schweizer dagegen sangen sich mal für mal ins Offside. Durchaus stimmstarke Interpreten wie Anna Rossinelli oder Remo Forrer traten mit dem Anspruch an, dass allein musikalische Argumente zählen. Und landeten im Irgendwo. Diesen Fehler macht Nemo Mettler nicht – bei weitem nicht. Das «musikalische Ausnahmetalent» (Tages-Anzeiger) aus Biel beherrscht zwar den Unterschied zwischen C-Dur und b-Moll im Schlaf. Er rappte sich auf Berndeutsch in die Herzen der Schweizer Fans, verliess seine Komfortzone und zog nach Berlin, um vermehrt auf englischsprachige Lieder zu setzen.

Sein marketingstrategisches Meisterstück liefert der 24-Jährige aber in diesen Tagen im Anlauf zum Eurovision Song Contest in Malmö ab – beziehungsweise hatte er es schon im vergangenen Herbst geliefert, als er der Welt mitteilte, dass er sich weder als Mann noch als Frau fühle und damit (logischerweise) non-binär sei.

Dies scheint eine Eigenschaft zu sein, die in der Parallelwelt dieser musikalischen Freakshow weit mehr Punkte einbringt als jede Stimmgewalt und alles Rhythmusgefühl dieser Welt.

Die Schweizer Illustrierte widmete Nemo schon im Vorfeld zwei Titelgeschichten und stellte euphorisiert fest: «Nemo ist grossartig». Der Sonntagsblick bezeichnet die Schweiz als «heisse Kandidatin» für den Sieg. Und selbst die Neue Zürcher Zeitung, die sich sonst mit diesen Niederungen der Unterhaltungsindustrie nur am Rande beschäftigt, befördert den Eurovision Song Contest zur Hauptgeschichte im Kulturteil. Nur die Sonntagszeitung drückte zuletzt etwas auf die Euphorie-Bremse und lieferte unter dem Titel «Kroatien überholt Nemo» ein Update der Wettquoten.

Derweil macht man sich in der Schweiz bereits Gedanken, wo der Eurovision Song Contest stattfinden könnte, sollte Nemo Mettler tatsächlich siegen. Der Interpret selber würde am liebsten in Biel auftreten, doch die dortige Tissot-Arena ist für den Mega-Event ein paar Nummern zu klein. Deshalb rückt Bern in den Vordergrund, wo Bernexpo-CEO Tom Winter forsch sagt: «Wenn Nemo gewinnt, muss der ESC einfach in Bern stattfinden. Für uns wäre es ein Kraftakt, den wir aber mit Begeisterung angehen würden.»

Günstig würde die Geschichte so oder so nicht. Gemäss Angaben der European Broadcasting Union fallen für die austragende Nation Kosten «zwischen zehn und zwanzig Millionen Euro» an. Böse Zungen behaupten deshalb, bei SRF stehe dem Chefbuchhalter bereits jetzt der Angstschweiz auf der Stirn. Mit der Halbierungsinitiative wäre ein Sieg schon gar nicht zu vereinbaren.

Deshalb, lieber Nemo Mettler: Gib alles, aber nicht zu viel. Beim ESC gelten eigene Regeln: Der Zweitplatzierte ist nicht der erste Verlierer, sondern der wahre Sieger.